Andre Gingrich
Institut für Ethnologie, Kultur- und Sozialanthropologie, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Andre Gingrich :  Gesellschaft 
 
Ein Lagebericht zur Situation der Frauen in Palästina  
  Die Lage der palästinensischen Bevölkerung hat sich in den vergangenen Monaten enorm verschlechtert. Durch die kontinuierliche Abriegelung des Gazastreifens kommt es zu immer größeren ökonomischen, humanitären und sozialen Problemen. Diese Situation bewirkt auch eine veränderte Rollenanforderung an die Frauen Palästinas.  
Dazu hier ein aktueller Lagebericht meiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin Gudrun Kroner, die sich als Dissertationsstipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit Identitätskonstruktionen und Frauenschicksalen in Palästina beschäftigt:
"Gaza is like a big prison!" Ethnologischer Lagebericht zur Situation der Frauen in Palästina.
Die Flüchtlingsforschung hat sich in der Sozialanthropologie erst in den letzten Jahren etabliert. In meiner Forschung, die sich im Rahmen einer Dissertation mit somalischen Flüchtlingen in Kairo und palästinensischen Flüchtlingen im Gazastreifen beschäftigt, wird auf einzelne Flüchtlingsschicksale eingegangen.

Im Zentrum des Forschungsinteresses steht eine personenzentrierte Darstellung von sozialen Netzwerken. Hierbei stehen nicht die anonyme Masse von Flüchtlingsströmen und nicht Flüchtlinge als Opfer im Mittelpunkt, sondern es wird angestrebt, auch auf deren aktive und kreative Überlebensstrategien und Anpassung einzugehen.

Des weiteren werden die Rollenanforderungen der Frauen erforscht, die rezent einem starken Wandel unterworfen sind.
Palästinensische Identitäten
Die Untersuchungen zeigten bisher, dass Gruppen- und Identitätsbildungen nicht statisch sind, sondern sich je nach Situation verändern. So gibt es etwa bei den PalästinenserInnen nicht nur eine, sondern mehrere Identitätsebenen.

Die am häufigsten angesprochene Identität ist sicher die "des/der" PalästinenserIn". Dennoch ist "palästinensische Identität" ein Gewebe von vielen Bildern, das ständig neue Formen annimmt.
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Zur Situation in Palästina
Seit dem Beginn der zweiten Intifada ist Gaza vom Rest der Welt praktisch abgeriegelt. Viele Menschen fühlen sich in Gaza wie eingesperrt. Mehrere Flüchtlinge meinten mir gegenüber: "Gaza is like a big prison!" Die palästinensischen BewohnerInnen des Gazastreifens dürfen weder nach Israel noch in die Westbanks und nur in sehr beschränkter Anzahl und unter größten Schwierigkeiten ins Ausland ausreisen.

Auch innerhalb Gazas ist die Bewegungsfreiheit enorm eingeschränkt: Checkpoints, die oft stunden- oder sogar tagelang geschlossen sind, machen es oft unmöglich Arbeitsplätze oder Ausbildungsstätten zu erreichen. Ich benötigte von Rafah (an der ägyptischen Grenze) bis Gaza 36 Stunden. Diese Strecke würde in normalen Umständen höchstens eine Stunden Reisezeit dauern. Erst jüngst, am 22. Dezember 2002 wurde Gaza durch die Errichtung von Blockaden in drei Teile geteilt.
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Israelische Terrorbekämpfung
In den westlichen Medien - die größtenteils die Sichtweise der israelischen Regierung widerspiegeln - gelten diese Maßnahmen freilich nicht als Menschenrechtsverletzungen, sondern vielmehr als legitimes Mittel der Terrorbekämpfung.

Im Zuge meiner Feldforschungen hatte ich Gelegenheit den Alltag der palästinensischen Bevölkerung mitzuerleben. Im folgenden möchte ich auf einige der Auswirkungen dieser "israelischen Maßnahmen" eingehen:
Armut
Eine Untersuchung im Oktober 2002 hat ergeben, dass 80 Prozent der palästinensischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben.

Durch die Schließung der Grenzen und den Verlust von Arbeitsplätzen in Israel, aber auch durch die Abholzung von Olivenbäumen und die Zerstörung von Feldern durch die israelische Armee wurde den meisten PalästinserInnen die Existenzgrundlage entzogen.

Viele konnten sich über eine gewisse Zeit noch mit Ersparnissen über Wasser halten, aber zunehmend sind immer mehr PalästinserInnen auf Unterstützung angewiesen.

Doch auch hier zeigt sich die Willkür der israelischen Politik: Ganze Wagenladungen voller Medikamente oder Nahrungsmittel stehen vor den Grenzen und werden nicht abgefertigt. Anfang Dezember wurde ein Nahrungsmitteldepot der UNO in Gaza durch eine israelische Bombe zerstört.
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Bevölkerungsdichte
Gaza hat eine der höchsten Bevölkerungsdichten der Welt. Im Flüchtlingscamp Shati leben mehr als 75.000 Flüchtlinge auf weniger als einem Quadratkilometer. 1,5 Millionen PalästinenserInnern stehen nur 60 Prozent der Fläche des Gazastreifens zur Verfügung, während 6.000 Israelis, die in stark bewachten Settlements leben, 40 Prozent der Fläche beanspruchen.
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Angst
Seit Jahren kommt es immer wieder zu Angriffen der israelischen Armee. In den ersten zehn Tagen des Dezembers wurden über 30 PalästinenserInnen getötet, davon waren mehr als die Hälfte Zivilisten. Unter ihnen befanden sich ein Geistesbehinderter, eine 95-jährige Frau und zahlreiche Kinder.

Immer wieder werden Kinder, die in der Nähe von Settlements spielen getötet. Viele Kinder leiden daher unter psychischem Störungen aufgrund des Stresses, dem sie ständig ausgesetzt sind.

Die ständige Angst vor dem Verlust von Kindern spiegelt sich in der Aussage einer Krankenschwester wider, die vier Kinder hat: "I don't want to have more children, but at the same time I feel that if they grow up and the Israeli kill them I will be left with no children. I am scared, I don't know what to do!"
Die Rolle der Frauen in Gaza
Die Lage der Frauen in Gaza ist medial und wissenschaftlich kaum dokumentiert. JournalistInnen, die sich in den okkupierten Gebieten aufhalten, konzentrieren sich vor allem auf das Kriegsgeschehen und die Politik.

Meine bisherigen ethnologischen Forschungen zeigten, dass sich die Rollenanforderung der Frauen in Gaza erweitert hat: Es wird von ihnen erwartet, dass sie ihre ursprünglichen Rollen als Mütter und Ehefrauen einnehmen, zusätzlich zwingen sie die politischen und ökonomischen Umstände auch in andere Rollen, wie die der Familienerhalterin einzunehmen.

Aber obwohl viele Frauen arbeiten und eine repräsentative Rolle innehaben, wird von vielen in der palästinensischen Gesellschaft diese langfristige Veränderung in der Stellung der Frau noch nicht akzeptiert. Das resultiert oft in Selbstzweifel und einem unsicheren Übergangsstatus.
Hava - eine (zu) emanzipierte Frau?
Eine dieser Frauen ist Hava, die im palästinensischen Flüchtlingscamp Shati aufwuchs. Ihren Ehemann Ahmed lernte sie als Studentin bei politischen Aktionen kennen. Kurz nach der Geburt ihrer beider Kinder wurde Ahmed aufgrund seiner politischen Aktivitäten inhaftiert und blieb von nun an für neun Jahre im Gefängnis.

Nach anfänglicher Verzweiflung wurde Hava aktiv: Sie strebte ein "besseres" Leben für ihre Kinder an, engagierte sich in der Frauenbewegung, arbeitete zunächst für eine NGO, dann für die UNO. Sie zog vom Flüchtlingscamp in einen besseren Stadtteil und die Kinder besuchen Privatschulen.
"Palestinian men who cannot cope with a strong woman"
Als ihr Ehemann endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde, wollte Hava zunächst nicht wahrhaben, wie sich ihre beider Leben verändert haben.

Sie meinte: "I was waiting for him to come out of the prison for all those years. I established a nice life for me and my children, but also for him. [...] He could not cope, he is like the Palestinian men who cannot cope with a strong woman. [...] He did not want to see the future, he was looking in the past, he asked me to move back in the refugee camp and to have a life like before."

Schließlich wurden die Differenzen unüberbrückbar und die Scheidung unvermeidlich. Das neue Rollenbild von Hava wurde weder von ihrem Ehemann noch von der palästinensischen Gesellschaft akzeptiert: "Now the people are talking about me. I cannot stand it any more, I just want to live my life!"
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Veranstaltung: "Frauen im Krieg"
Anlässlich des Internationalen Frauentags am 9. März findet im Wiener Volkstheater die Veranstaltung "Frauen im Krieg" statt. Dabei stehen Frauen im Mittelpunkt, die vom Leben im Krieg erzählen.
Ort: Volkstheater Wien
Zeit: So., 9. März, 11 Uhr
Veranstalter: "Reporter ohne Grenzen", "Frauen ohne Grenzen"
Eintritt frei!
->   Volkstheater
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