Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Bedenkliche Naivität vor der Geschichte  
  Warum und wie man Kurt von Schuschnigg weiterhin als Politiker beurteilen sollte - auch wenn es seine Familie schmerzt.  
Kultur der Viktimisierung
Die amerikanische Sozialwissenschaftlerin Pamela Ballinger hat vor einigen Jahren in der Zeitschrift "History&Memory" über den merkwürdigen Umstand geschrieben, dass (in den USA, aber auch weltweit) eine Kultur der Viktimisierung Platz gegriffen hat.

Immer mehr Individuen und gesellschaftliche Gruppen erheben Anspruch auf Repräsentation oder öffentliche Beachtung, indem sie sich als eine Gemeinschaft von Verfolgten darstellen; das Markante daran ist, dass es sich hier nicht nur um das Einklagen von Rechten durch historisch diskriminierte Gemeinschaften handelt, sondern auch um ein "weißes" Mittelklassenphänomen (nach der Niederlage in Vietnam).

Die Erben der Kolonisateure und der Disziplinarmacht verlassen die Sprache der politischen Herrschaft und die aufgeklärten Diskurse über die Kosten des Fortschritts etablieren sich im Feld der realen Opfer dieser Geschichte. Die Effekte der Politik und die Verantwortung für sie werden damit auf die Ebene einer zeitunabhängigen moralischen Haltung von Individuen verlegt, die als ihren ultimativen Maßstab die Barbareien der Nationalsozialisten und der japanischen Okkupationskräfte in Ostasien während des II. Weltkrieges aufstellen. Soweit, grosso modo, Pamela Ballinger.
Rehabilitation Kurt von Schuschniggs
Etwas an diese Analyse erinnert fühlen durfte man sich, wenn man in den letzten Wochen die Bemühungen von Kurt Schuschnigg junior registriert hat, eine Rehabilitation seines Vaters und vorletzten österreichischen Kanzlers Kurt von Schuschnigg zu erreichen.

Zeitungen (Der Standard, 14.4.2001) und Rundfunk haben ihm ausreichend Gelegenheit geben, im Windschatten der laufenden Reparationsverhandlungen seine sehr persönliche Recodierung der jüngeren österreichischen Geschichte widerspruchslos zu präsentieren.
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science.orf.at lädt zur Debatte
Kaum ein Thema der österreichischen Zeitgeschichte ist umstrittener als die historische Einschätzung der Regierungen Dollfuß und Schuschnigg. Für die einen sind sie österreichische Patrioten, die sich dem Erstarken des Nationalsozialismus widersetzten, für die anderen autoritäre Führer eines Regimes, das elementare demokratische Grundrechte außer Kraft setzte. science.orf.at öffnet für diese Diskussion ein Forum und lädt Historiker ein, ihre Standpunkte darzulegen.
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Respekt ja ...
Nun - die dehumanisierende Behandlung Kurt von Schuschniggs durch die Nationalsozialisten und die mörderischen Bedingungen seiner KZ-Haft erfordern zweifellos Respekt vor der Person.

Rehabilitiert im engeren Wortsinn muss der Führer des faschistischen Regimes, das sich in Österreich vor dem Nationalsozialismus etabliert hatte und in einen sich intensivierenden Konkurrenzkampf mit diesem verstrickt wurde, jedoch nicht werden - weil er nie für den Bruch mit der demokratischen Verfassung von 1920/29, den er schon als Justizminister unter Engelbert Dollfuß systematisch herbeigeführt hatte, zur Verantwortung gezogen worden ist.
... aber keine politische Rehabilitation
Es geht ihm, sagt sein Sohn heute ohne Aufschrei oder Gelächter auszulösen, um die politische [!] Rehabilitierung des austrofaschistischen Staatsführers, der vielleicht für die Wiedereinführung der Todesstrafe, der Zeitungszensur und der Standgerichtsbarkeit, für ein Streik- und Demonstrationsverbot, die Zwangsmitgliedschaft von Beamten in staatsloyalen Verbänden und die Abschaffung des Parlaments (mit)verantwortlich zeichnete, aber - für ihn - "ein Demokrat" gewesen sei.

Ein Demokrat bis zur letzten paradoxen Konsequenz übrigens: weil Schuschnigg sen. etwas gegen die Nationalsozialisten gehabt hätte, hätte er auch die Sozialdemokraten unterdrücken müssen - alles andere wäre undemokratisch gewesen. Soweit Schuschnigg jun. (in großzügiger Manipulation der Chronologie und nicht erwähnend, wie oft Dollfuß und Schuschnigg ein Arrangement mit bestimmten Fraktionen der österreichischen Nationalsozialisten gesucht haben. Schließlich wählten beide auch die Bezeichung vom (christlichen) "deutschen Staat Österreich".)
Antiliberale Auffassung von Demokratie
Nun, genau diese antiliberale Auffassung von Demokratie - die bürokratisch-korporatistische Regulierung der Gesellschaft durch ein von einer höheren Macht legitimiertes autokratisches Zentrum - haben sich eine kritische Öffentlichkeit, Zeithistoriker und Politiker in den 1970er Jahren mithilfe profunder Dokumentenstudien vorgenommen, um zum Schluss zu kommen, dass das Dollfuß-Schuschnigg-Regime ein Modell des korporativen europäischen Faschismus von mehreren gewesen ist. Nicht mehr, nicht weniger, und schon gar keine "wahre" Demokratie.
Gegen phrasenhaft patriotische Opfermentalität
Politisch gesehen kann es keine Rehabilitierung Kurt Schuschniggs geben, der - betrachten wir es zunächst bloß taktisch - eine einzige Kette fataler Entscheidungen (Juli-Abkommen 1936, Berchtesgadener Abkommen 1938) getroffen hat, die seine nationalsozialistische Konkurrenz nur stärken konnte. Es sei denn man schafft es tatsächlich, den eingangs genannten Manichäismus von Tätern und Opfern universal erscheinen zu lassen und - hier und heute - die transmoralische Dimension der Politik als komplexes Entscheidungs- und Kommunikationssystem in einer phrasenhaften patriotischen Opfermentalität aufzulösen.

Wenn die erfreulich intensivierte Beschäftigung mit der Zeit des Nationalsozialismus in Österreich eine Amnesie angesichts der durch und durch autochthonen faschistischen Aggression davor bewirkt, dann haben wir letztlich nichts gewonnen.
->   Institut für Zeitgeschichte
 
 
 
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