Host-Info
Siegfried Mattl
Siegfried Mattl,
Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Siegfried Mattl :  Gesellschaft 
 
Friedrich Heer: Schreiben gegen die Dogmatiker  
  Vor kurzem präsentierte der Böhlau-Verlag die ersten zwei Bände einer Werksausgabe, die sich der Arbeiten des 1972 verstorbenen und mittlerweile (zu Unrecht) in Vergessenheit geratenen Historikers, Philosophen, Journalisten und Dramaturgen Friedrich Heer annimmt.  
Ein Intellektueller mit Erfahrung und Methode
Mit seinem Namen verbindet sich eine zwischenzeitlich verlorene gesellschaftliche Institution - jene der Intellektuellen, die, wie Edward Said formulierte, ihr Erfahrungswissen mit analytischen Methoden zu koppeln verstanden und darauf aufbauend eine nationale Kultur organisierten. Nicht unbedingt eine nationalistische, homogene Kultur, wie das Beispiel Heer zeigt, sondern auch eine konfliktreiche, umstrittene Kultur.

Erfahrungswissen - das meint, mit Bezug auf Friedrich Heer vor allem seine Konfrontation mit dem politischen (bzw. politisierenden) österreichischen Katholizismus. "Methode" bezieht sich auf seine oftmals virtuose Verwendung psychologischer bzw. psychoanalytischer Kategorien zur Erläuterung historischer Prozesse, die - eines seiner zentralen Themen - zur strukturellen Unfähigkeit der österreichischen Gesellschaft zu Toleranz und rationaler Verhandlung divergierender Interessen geführt haben.
Die Spur der brüchigen Identität Österreichs ...
Wie die meisten Intellektuellen seiner Generation stellte sich Heer die Frage nach den Ursachen der politischen Krise, der Bürgerkriege und des "Anschlusses" in den 1930er Jahren, als Frage nach der Brüchigkeit österreichischer "Identität" ["Der Kampf um die österreichische Identität" (1981)].

Und - das unterschiedet ihn von den patriotischen Staatshistorikern nach 1945 - er fand die Antwort darauf in der Annahme zweier konkurrierender Kulturen, die er in den Glaubenskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts Gestalt annehmen sah.
... führte zu grundlegendem Konflikt
Der gewalthaltige Konflikt zwischen einer protestantisch/deutschen/rationalistischen Kultur und einer katholisch/universalistisch, zugleich aber volkskulturell-magischen Kultur sollte sich in immer neuen Formen einstellen, bis herauf zum unüberbrückbaren Gegensatz von Sozialdemokraten, Deutschnationalen und Christlichsozialen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Bestimmte lokale Mentalität
Heer sah diesen Prozess selbstverständlich nicht als eine Art Kostümfest an, sondern - das macht seine so genannte "Geistesgeschichte" zu einem immer noch beachtenswerten Entwurf - als Formierung einer spezifischen lokalen Mentalität, d.h. als Prägung von Kommunikations- und Verhaltensmustern, die über die Säkularisierung hinausreichen und die die neuartigen, modernen Konflikte färbten.
Latente Gewalt, Schein-Anpassung, Verstellung
Millenarismus und Intransingenz, die Aufladung von politischen Gegensätzen mit Glaubenspartikeln, führten für Heer zur Latenz der Gewalt - ein wiederkehrendes Motiv, das Heer mit uns heute verblüffender Aktualität auch auf die internationale Politik anzuwenden wußte [z.B. "Kreuzzüge - gestern, heute, morgen?" (1969)].

Unter den Bedingungen der Dominanz einer (d.i. der katholischen) Kultur führten sie aber gleichzeitig zu vordergründigen Adaptionen (Kryptoprotestantismus) und zur Kunst der Verstellung.
Kritik nach allen Seiten
Beides verhinderte eine stabile und gelebte demokratische Institutionalisierung. Heers Kritik traf beide (und nahm etwas von der Infragestellung der Moderne in den 80er Jahren vorweg) - die Aufklärer wie die Spiritualisten. Umgesetzt in die Alltagspolitik in Österreich nach 1945 traf sie allerdings den Autor selbst: oberflächlich gewürdigt, blieb Heer doch ein gerade noch geduldeter Außenseiter.
->   Friedrich Heer und die Neuausgabe seiner Werke (K.P. Liessmann, 11.11.03)
->   Friedrich Heer-Homepage
 
 
 
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