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Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda gestorben  
  Die österreichische Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda ist am vergangenen Sonntag im Alter von 94 Jahren in Sussex (Großbritannien) gestorben, wie heute bekannt wurde.  
Bild: APA
Marie Jahoda (1995)
Die bedeutende aus Österreich stammende Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda ist tot. Wie die Tageszeitung "Der Standard" heute meldet, ist die 1907 in Wien geborene und hierzulande lange Zeit vergessene Jahoda am Sonntag im englischen Sussex gestorben.

Gemeinsam mit ihrem damaligen Ehemann Paul Lazarsfeld hatte Marie Jahoda in den dreißiger Jahren die berühmteste soziologische Studie über Österreich verfasst: "Die Arbeitslosen vom Marienthal". Diese Arbeit sollte ihr weiteres Leben bestimmen.
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Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit e. Anh. z. Geschichte d. Soziographie.
Erschienen bei Suhrkamp (1975)
ISBN: 3-518-10769-0
109,- ATS
"Die Arbeitslosen vom Marienthal"
Mit 25 Jahren verfasste die aus Wiener jüdischem Elternhaus stammende revolutionäre Sozialistin Marie Jahoda die soziologische Studie "Die Arbeitslosen vom Marienthal". Gemeinsam mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel skizzierte sie darin die außerordentliche Belastung der Menschen durch Arbeitslosigkeit und durch äußere Umstände überhaupt .

"Es war damals eine große Debatte in der Sozialdemokratie, ob
lange Arbeitslosigkeit zu Revolution führt, daher hat man unsere
Arbeit so begrüßt. Von Marienthal haben wir gelernt, dass aus
materiellem Elend kein Weg zu fortschrittlichem Denken führt -
vielmehr mündet es in Resignation", meinte Jahoda viele Jahre später. Die Bedeutung der Arbeitslosigkeit lag für sie "sehr viel tiefer als nur in der Lohntüte", das Schrecklichste daran ist für sie die "soziale Isolierung der arbeitslosen Menschen".
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Zeit ihres Lebens blieb ihr der einzelne Mensch, der von äußeren Zwängen bestimmt wird, ebenso wichtig wie die Betrachtung der großen Gruppe, des Kollektivs:

"Die Vererbung vergleiche ich gerne mit einem Marmorblock: Er kann zerschmettert oder in eine Statue verwandelt werden. Was aus ihm wird, hängt nicht vom Marmorblock ab."
Ausweisung aus Österreich
Nach der Scheidung von Paul Lazarsfeld 1934 leitete Marie Jahoda bis 1936 die Österreichische Wirtschaftspsychologische
Forschungsstelle, die sie als Mitglied der Revolutionären Sozialisten auch als Deckadresse für illegale politische Aktivitäten nutzte.

1936 wurde sie auf Grund ihres politischen Engagements verhaftet und nach neun Monaten Gefängnis und ausländischen Interventionen mit der Auflage entlassen, binnen 24 Stunden Österreich zu verlassen.

"Auf der Polizei hat man mir angeboten: 'Wollen Sie unterschreiben, dass sie für immer das Land verlassen, wenn wir sie jetzt gehen lassen?' Das kam mir als die entsetzlichste Entscheidung meines Lebens vor, hat mir aber natürlich das Leben gerettet; denn das war einige Monate vor dem Einmarsch der Nazis."
Exil in London und den USA
Jahoda, der man die österreichische Staatsbürgerschaft aberkannte, emigrierte nach Großbritannien. Bald führende Kraft der "Österreichischen Sozialisten in Großbritannien", wurde sie zur Gestaltung einer eigenen Sendung für Österreich, "Radio Rotes Wien", herangezogen.

Noch vor Ende des Zweiten Weltkrieges ging Jahoda in die USA, wo sie bei der Erforschung der Wurzeln des Antisemitismus mitwirkte und zwischen 1949 und 1958 an der Universität von New York Sozialpsychologie lehrte. 1958 kehrte Jahoda nach Großbritannien zurück.

Sie lehrte an der Brunel Universität Psychologie und ab 1965 bis zu ihrer Emeritierung im Jahr 1973 Sozialpsychologie an der Universität Sussex. Das Thema Arbeitslosigkeit stand weiterhin im Mittelpunkt ihrer Arbeit, zu dem sie zahlreiche Studien veröffentlichte.

¿Sie war die Begründerin von Einstellungsuntersuchungen zu verschiedenen sozialen Phänomenen. Sie gilt als eine der ersten Forscherinnen, die sich mit Rassismus und Antisemitismus beschäftigt haben, und war dann auch die Doyenne der spezifischen aus Österreich vertriebenen Soziologie", sagt der Wiener Soziologe und Historiker Reinhold Knoll.
Lang vergessen in Österreich
Eine Rückkehr der Wissenschaftlerin von Weltrang nach Österreich wurde ihr vorerst weder von ihren politischen Freunden in der SPÖ, noch von den heimischen akademischen Institutionen angeboten.

Erst in den letzten Jahren wurde sie, die längst ihren Frieden mit Österreich gemacht hatte, Objekt zahlreicher Ehrungen: Unter anderem erhielt sie 1993 das Große Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich und den Preis der Stadt Wien für Geistes- und Sozialwissenschaften.
"Nicht alles war gut in Österreich"
"Nicht alles war gut in Österreich, nicht alles war gut in der sozialdemokratischen Partei, aber wir haben damals in dem Glauben gelebt, wenn man das Böse und Schlechte bloßstellt, damit auch schon zu seiner Veränderung beizutragen", so Jahoda anlässlich einer Feier zum 40. Geburtstag der Zweiten Republik.

Martin Haidinger, Ö1-Wissenschaft
 
 
 
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01.01.2010