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Mit der Phraseologie ein Leiberl reißen  
  Das "Leiberl" ist ein klarer Fall: ein Austriazismus. Ein Leiberl zu reißen oder auch nicht ist daher wohl auch eindeutig eine österreichische Redewendung. In bundesdeutscher Standardsprache ginge es wohl im Fall von "geringer Erfolgsaussicht" um den nicht zu gewinnenden Blumentopf. Welche Phraseologismen die österreichische Standardsprache zu bieten hat, wollen Wiener Germanisten nun im ersten umfassenden "Wörterbuch zur österreichischen Phraseologie" dokumentieren.  
Projektleiter Peter Ernst vom Institut für Germanistik der Universität Wien und sein Team arbeiten seit drei Jahren an der Erhebung der österreichischen Phraseologismen und planen eine Buchveröffentlichung im Jahr 2007. Der Sprachwissenschaftler zieht im Gespräch mit science.ORF.at eine Zwischenbilanz.
Bei der Abgrenzung ...
Das österreichische Deutsch kann neben dem bundesdeutschen und schweizerischen Deutsch als eine so genannte nationale Varietät des Hochdeutschen betrachtet werden, erläutert der Sprachwissenschaftler Peter Ernst. Sie alle vereint: Dass sie zwar deutliche Unterschiede aufweisen, um aber als eigene Sprache zu gelten, sind diese nicht groß genug.

So hat sich in der Sprachwissenschaft der Bergriff der plurizentrischen Sprache eingebürgert, der vor rund 20 Jahren von dem australischen Germanisten Michael Clyne geprägt wurde.
->   Plurizentrische Sprachen bei Wikipedia
... liegt der Hund begraben
Bei der Abgrenzung der nationalen Varietäten wird es somit schwierig. Doch für die Erfassung der österreichischen Phraseologismen wählten Ernst und sein Team einen pragmatischen Ansatz: Es ging ihnen nur um die österreichische Standardsprache - ohne die Berücksichtigung von Dialekten -, wobei die österreichische Standardsprache für sie "alles ist, was von Österreicherinnen und Österreichern gekannt und verwendet wird."

Ernst präzisiert weiter: "So handelt es sich eigentlich um die 'Alltagssprache', da sich das 'schöne Sprechen' mit der Umgangssprache zunehmend mischt." So sei beispielsweise sich ins Pendel hauen, soll heißen: sich umbringen, eine durchaus gebräuchliche umgangssprachliche Redewendung, die "man aber sicherlich nicht im Gespräch mit dem Bundespräsidenten verwenden würde."
Österreichischen Phraseologismen auf die Spur kommen
Ganz im Gegensatz zu dem "gut dokumentierten" österreichischen Deutsch, das im Österreichischen Wörterbuch - erstmals 1951 erschienen - geregelt ist, wurde das Gebiet der österreichischen Phraseologie bis dato eher stiefmütterlich behandelt.

"Das von uns erstellte 'Wörterbuch zur Österreichischen Phraseologie' soll eine Art Ergänzung zu dem Österreichischen Wörterbuch bieten", so Ernst. Das Österreichische Wörterbuch beinhalte zwar Phraseologismen, mitunter auch als Redewendungen bezeichnet, aber nur vereinzelt. Jemand stellt jemandem die Rute ins Fenster sei beispielsweise in noch keinem Wörterbuch erfasst.

Die Wiener Germanisten sammelten im Zuge des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) geförderten Projekts sprachliche Konstruktionen, die mindestens aus zwei (Wort-) Komponenten zusammengesetzt sind, "wobei die zwei Wörter allein stehend etwas ganz anderes bedeuten, als wenn sie kombiniert werden."
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Moderne Phraseologie
Zu den Begründern der Modernen Phraseologie zählen u.a. der Deutsch-Schweizer Sprachwissenschaftler Harald Burger der Universität Zürich und der verstorbene Sprachwissenschaftler Wolfgang Fleischer, ehemals an der Universität Leipzig lehrend - beide haben sich insbesondere seit den 70er Jahren diesem Gebiet gewidmet.
->   H. Burger: Phraseologie (2003)
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Wie der Hase läuft ...
Ein Jahr lang sammelten die Wissenschaftler Redewendungen, die in österreichischen Tageszeitungen, diversen Wochenzeitungen und Monatsmagazine auftauchten. Doch auch die österreichische Literatur sichteten die Forscher, so etwa von Elfriede Jelinek, Peter Handke, Wolfgang Bauer und Elfriede Gerstl - laut Ernst "möglichst aktuelle" Texte zeitgenössischer Autoren.

Die Phrasen wurden exzerpiert und anschließend in einer Befragung von 1.500 Personen auf Bekanntheitsgrad und Gebrauch getestet. "Es ging uns wirklich um Redewendungen, die standardsprachlich im Alltag gebraucht werden", so Ernst. Die Befragung hätte auch vermieden, dass Eigenkonstruktionen in die Sammlung aufgenommen werden. Eine solche sei etwa Elfriede Gerstls Was der Bauer nicht kennt, das raucht er nicht.

Wenn auch keine Dialekte Berücksichtigung fanden, so doch den Befragten geläufige Varianten der Redewendungen: ist es standardsprachlich, sich kein Bein auszureißen, wird das Bein mancherorts durch die Haxe ersetzt (sich keinen Haxen ausreißen).
Bundesdeutsch und Österreichisch
In welchem Ausmaß es Überschneidungen des bundesdeutschen und österreichischen Deutsch bei den Phrasen gibt, war nicht Teil des Forschungsgegenstands.

Grundsätzlich lässt sich sagen, "dass die Unterschiede zwischen bundesdeutschem und österreichischem Deutsch in der Phraseologie nicht so markant sind, wie bisher angenommen wurde", erläutert Ernst. Besonderheiten wären gerade da auszumachen, wo Wortschatz und lexikalische Verwendungsweise aus dem österreichischen Deutsch auftreten würden.

"Ein Stichproben-Test in Berlin hat ergeben, dass der Großteil der österreichischen Redewendungen auch von den Deutschen gekannt und verwendet wird", erklärt der Sprachwissenschaftler.

Somit wird im Wörterbuch die eher österreichische Redensart da fließt viel Wasser die Donau runter genauso wie jemanden auf die Palme bringen - von vielen eher als bundesdeutsch angesehen, doch auch in Österreich gebräuchlich - vertreten sein.

Ein weiteres Schmankerl aus Ernsts Schatzkiste: Da fährt die Eisenbahn drüber! gelte in Österreich genauso wie Da fährt der Zug drüber!, wobei letztere Redewendung als österreichische Modifikation von der Mehrheit bevorzugt würde.
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Voll am Dampfer
Rund 5.000 Phrasen werden dem Leser in dem voraussichtlich im Herbst 2007 erscheinenden Buch präsentiert: Jedes entlang dem standardisierten schriftlichen Wörterbucheintrag (Lemma), der Bedeutungsangabe, einem Beispiel mit Quellenangabe, Varianten und einer Anmerkung. Zum Beispiel: Jmd. ist voll am Dampfer, was soviel heißt wie: (gesundheitlich) wiederhergestellt sein, wie etwa zitiert "aber physisch wieder vollkommen am Dampfer" bei Wolf Haas, Wie die Tiere, S.80, in der Variante voll auf dem Dampfer sein und hat nichts mit auf dem falschen Dampfer sein zu tun.
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Datenbank und Buch
Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden der Öffentlichkeit im Jahr 2007 präsentiert, kündigt die Online-Zeitschrift der Universität Wien an: Eine Datenbank mit rund 15.000 Phraseologismen der Standardsprache in Österreich soll als Grundlage für zukünftige Forschungsarbeiten dienen und Diplomanden sowie Dissertanten zugänglich sein.

Das "Wörterbuch zur österreichischen Phraseologie" soll im Herbst nächsten Jahres auf dem Buchmarkt erscheinen - derzeit erfolgt die redaktionelle Bearbeitung durch das Germanisten-Team.

Lena Yadlapalli, science.ORF.at, 20.3.06
->   Peter Ernst, Wiener Institut für Germanistik
->   Online-Zeitung der Universität Wien
->   Österreichisches Wörterbuch im "Österreich Lexikon" des bm:bwk
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Die kriegerischen Wurzeln der deutschen Sprache (14.7.03)
->   Sinn und Gefahr wissenschaftlicher Metaphern (9.7.03)
 
 
 
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01.01.2010