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Das Tribunal der Blicke  
  Wie hängen Scham und Schuld zusammen, was unterscheidet sie und welche kulturelle Bedeutung kommt ihnen zu? Über diese Frage gibt es in den Kulturwissenschaften eine rege Debatte. Sie ist aufschlussreich - nicht nur für die Gefühlskultur des Einzelnen, sondern auch für aktuelle Konflikte zwischen westlichen und östlichen Gesellschaften, die seit dem zweiten Irak-Krieg wortwörtlich "dramatische Formen" angenommen haben. Für die Literaturwissenschaftlerin Claudia Benthien, IFK-Senior-Fellow, offenbart sie auch verblüffende Einsichten in die emotionalen Dynamiken literarischer Texte, wie in einem Gastbeitrag beschrieben.  
Scham und Schuld - archaische Differenzen

von Claudia Benthien

Während die christliche Kultur zahlreiche Mechanismen zur Befreiung von Schuld bereitstellt, finden sich keine Mechanismen, um Scham zu überwinden. Scham ist existenziell, sie betrifft die ganze Person und kann diese radikal in Frage stellen.

Dem Psychoanalytiker Leon Wurmser zufolge bezieht sich Scham auf ein "Bild des idealen Selbst", Schuld hingegen auf einen "Kodex idealer Handlungen".

Dem Schuldigwerden geht oft ein Konflikt voraus. Scham steht demgegenüber vor einem solchen Konflikt. Nach Auffassung der Psychoanalytiker Till Bastian und Micha Hilgers liegt Schuld oft das Ziel zugrunde, die als passiv erlebte Scham aktiv abzuwehren.
Kain und Abel geben ein Beispiel
Ein Beispiel dafür ist die biblische Erzählung von Kain und Abel: Kains Schuldigwerden durch den Brudermord ist die Reaktion auf eine Beschämung, die Missachtung durch Gott.

Kain löst sich aus dieser passiven Situation, indem er die Scham in Schuld verwandelt und zugleich den Zuschauer seiner Beschämung, der sein Rivale ist, tötet.
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Vortrag am IFK
Claudia Benthien hält am 24. April 2006, 18.00 c. t. am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften einen Vortrag mit dem Titel "Das Tribunal der Blicke. Kulturtheorien der Scham und die Tragödie um 1800".
Ort: IFK, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   IFK
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Schamkulturen und Schuldkulturen
Des Weiteren findet sich die (umstrittene) These, wonach Gesellschaften sich in Schamkulturen und Schuldkulturen einteilen lassen.

Schamkulturen beruhen auf einer äußeren Instanz, die Fehlverhalten sanktioniert. Die Schamgefühle entstehen als Reaktion auf die Kritik oder Bloßstellung.

In einer Schuldkultur ist die Autorität hingegen verinnerlicht. Schon Immanuel Kant stellte sich das Gewissen als inneren Gerichtshof vor, in dem ein Teil des Selbst als Richter den anderen anklagt.

In Schuldkulturen kann der Affekt durch Konfession, Buße oder auferlegte Sanktionen verarbeitet werden. In Schamkulturen ist dies nicht möglich. Das gesellschaftliche Ansehen stellt den größten Wert und die üble Nachrede eine existenzielle Schädigung dar. Nicht das eigene Gewissen ist die höchste Strafinstanz, sondern die Reaktion der Gesellschaft.
Scham als "Ausdruckshemmung"
An der physiologischen Reaktion des Errötens fällt, wie der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann betont, die "Akzentuierung der Körpergrenze" auf, die zugleich markiert wird und als unwillkürliche Maske fungiert.

Lehmann deutet Scham daher als "Ausdruckshemmung" und "Entzug der Darstellung". Scham ist dem Blick also diametral entgegengesetzt und in gewisser Hinsicht anti-theatral.
Scham durch durchbohrende Blicke
Der Philosoph Hermann Schmitz bezeichnet die Blicke in der Scham als "aggressive Vektoren" mit denen der Beschämte "durchbohrt" werde.

Auch die Soziologin Vessela Misheva betont, Scham werde durch ein Publikum ausgelöst, das Schuldgefühl hingegen bedürfe dessen nicht. In Scham-Situationen fühle sich das Individuum von Augen umringt. In Schuld-Situationen sei hingegen eher die Stimme des Über-Ich zu hören, also verbale Gebote und Verbote.
Scham in der antiken Tragödie ...
Solche kulturtheoretischen Unterscheidungen sind aufschlussreich für die Gattung der Tragödie, besteht doch die Tragik bereits des sophokleischen "König Ödipus" in der 'schuldlosen Schuld' des Helden, die unermessliche Scham (und autoaggressive Handlungen) auslöst.

In der deutschsprachigen Dramatik ist unter dieser Perspektive besonders die Zeit um 1800 interessant, als der Versuch unternommen wurde, es mit der antiken Tragödie aufzunehmen.
... bis hin zu Schiller und Kleist
Christliche Themen konkurrierten auch mit antiken Sujets. So lässt sich etwa anhand der Kontrastierung von Friedrich Schillers "Die Jungfrau von Orleans" mit Heinrich von Kleists "Penthesilea" zeigen, dass die bei Schiller vorherrschende Schuldkultur sich als fragile Überwindung einer archaischeren Schamkultur erweist, wie Kleist sie gestaltet.

Johanna von Orleans und ihre Gegenspielerin, die mythische Amazonenkönigin Penthesilea, sind durch narzisstische und maskulinisierende Selbstüberhöhung gekennzeichnet. Beide ziehen als jungfräuliche Kriegerinnen in den Kampf und geraten in der Begegnung mit einem männlichen Gegner in ein moralisches Dilemma. Ein Konflikt zwischen Gebot und Neigung entsteht.

Das "entflammte" Begehren und die damit einhergehende Niederlage im Kampf wird als vernichtende Schande erlebt. Diese wird durch Akte der Schuldannahme einerseits, des Schuldigwerdens andererseits abgewehrt. Es offenbart sich ein Spannungsverhältnis von Scham und Schuld, das die Dynamik beider Stücke beherrscht.

[21.4.06]
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IFK Senior Fellow Claudia Benthien
Claudia Benthien ist Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg und Senior-Fellow am IFK in Wien.
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01.01.2010