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John Stuart Mill: 200. Geburtstag des 'Freiheits-Apostels'  
  In der angelsächsischen Philosophie gilt John Stuart Mill als ein "Apostel der Freiheit". Die Freiheit ist für ihn der "erste und stärkste Wunsch der menschlichen Natur", sie bewirkt den menschlichen Fortschritt. Das Grundproblem der Freiheit bestehe im Konflikt zwischen individueller Freiheit und Gesellschaft, meint Mill, der vor 200 Jahren geboren wurde.  
John Stuart Mill kam am 20. Mai 1806 als Sohn von James und Harriet Mill in London auf die Welt.

Sein Vater, Anhänger eines philosophischen Radikalismus, zwang den hochbegabten Knaben zu einem einzigartigen pädagogischen Experiment, das ihn zu einer "reinen Verstandesmaschine" machen sollte. Das Ziel war die "Schaffung eines Genies".
Ein Erziehungsexperiment
Bild: The Warren J. Samuels Portrait Collection at Duke University.
John Stuart Mill
Im Alter von drei Jahren begann Mill, griechisch-englische Vokabellisten auswendig zu lernen. Er las griechische Klassiker; abends wurde er in Arithmetik unterrichtet. Im Laufe der Jahre studierte er die englische Geschichte, hinzu kamen Reisebeschreibungen.

Mit acht Jahren folgte Latein; mit zehn Jahren kam die Differentialrechnung hinzu; vorausgegangen waren Studien zur Geometrie und Algebra.

Mit zwölf Jahren schrieb er sein erstes Buch über die römischen Regierungsgrundsätze; mit 13 Jahren erhielt er einen umfassenden Kurs über die Nationalökonomie.
Folge: Isolation
Das Resümee dieser Erziehung zog Mill erst nach dem Tode seines Vaters. "Ich wuchs auf mit einem Gefühl des Eingesperrtseins", so notierte er. "Ich wuchs auf im Mangel an Liebe und in ständiger Angst."

Trotz des traumatischen Erlebnisses betonte Mill Zeit seines Lebens die Bedeutung der Bildung. Das Individuum sollte sich die Bildung jedoch organisch aneignen.
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Radio-Hinweis
Die Ö1-Dimensionen widmen sich ebenfalls dem 200.Geburtstag von John Stuart Mill.

Datum: Donnerstag,18. Mai 2006, 19:05 Uhr, Radio Österreich 1.
->   Mehr dazu in oe1.ORF.at
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Beschäftigung mit Benthams Utilitarismus
Im Alter von 17 Jahren trat Mill in die Ostindische Handelsgesellschaft ein, wo er bald verantwortungsvolle Ämter übernahm. In diesen Jahren befasste er sich mit der Lektüre der utilitaristischen Schriften des Philosophen Jeremy Bentham, der ein enger Freund seines Vaters war.

Der Grundgedanke des Utilitarismus - wie ihn Mill vertritt - besagt, dass Handlungen gefordert sind, die das Wohl oder den Nutzen der Gesamtheit der Menschen vermehren sollen.

Dabei handelt sich nicht um eine egoistische Motivation des Einzelmenschen, sondern es geht um den Nutzen, "um das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl".
Qualität des Glücks und drei Freiheiten
Später erweiterte Mill in seinem Buch über den Utilitarismus das Glückskalkül Benthams durch ein qualitatives Maß des Glücks.

Unter Glück verstand Mill dabei nicht das materielle "Glücksstreben eines Schweins", wie es ihm von Kritikern vorgeworfen wurde, sondern die allgemeine Ausbildung und Pflege eines edlen Charakters".

Die 1859 publizierte Schrift "Über die Freiheit" war das Bekenntnis eines Liberalen, der an den Fortschritt der Menschen durch Gedankenfreiheit glaubte. Seine Auffassung der Freiheit betrifft drei Bereiche: die innere Freiheit des Bewusstseins, die äußere Freiheit des Handelns und die Assoziationsfreiheit.
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Die innere Freiheit des Bewusstseins:
"Sie umfasst Gewissensfreiheit im umfassendsten Sinne, Freiheit des Denkens und Fühlens, absolute Freiheit der Meinung und des Empfindens in Bezug auf alle praktischen oder spekulativen, wissenschaftlichen, moralischen oder theologischen Gegenstände."

Die äußere Freiheit des Handelns:
"Sie umfasst die Freiheit, unserem Leben einen unserem eigenen Charakter gemäßen Rahmen zu geben, die Freiheit, so zu handeln, wie es uns gefällt, welche Konsequenzen daraus auch folgen mögen: ohne Behinderung von Seiten unserer Mitmenschen, solange unser Tun ihnen nicht schadet."

Die Assoziationsfreiheit:
"Dieser Bereich umfasst die Freiheit, sich für irgendeine Sache zu vereinigen, die nicht eine Schädigung anderer einschließt, unter der Voraussetzung, dass die sich vereinigenden Personen volljährig und nicht gezwungen noch getäuscht worden sind."
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Nonkonformisten gefragt
Mill fürchtete den Terror der Konformität, den "Despotismus der Gesellschaft gegenüber dem Individuum. Gegen die "Maschinen moralischer Unterdrückung", die vornehmlich von der viktorianischen Mittelklasse angewendet wurden, stellte Mill den Typus des Exzentrikers.

"In diesem Zeitalter tut schon das bloße Beispiel der Nonkonformität einen Dienst," notierte er, "gerade weil die Tyrannei der öffentlichen Meinung derart groß ist, ist es wünschenswert, dass Leute, um diese Tyrannei zu brechen, exzentrisch sind."
Verfasser von Logik-Lehrbuch und Politiker
Neben seiner beruflichen Arbeit bei der Ostindischen Handelsgesellschaft und seinen Studien zum Utilitarismus und zur Freiheit befasste sich Mill auch noch mit Fragen der Logik. Seine 1843 erschienene "Logik" wurde bald zum anerkannten Lehrbuch der Studenten an englischen Universitäten.

Nach seiner Pensionierung im Jahr 1858 engagierte er sich für die liberale Partei der Whigs und zog sogar ins Parlament ein. Dort setzte er sich für die Gleichberechtigung der Frauen ein und veröffentlichte das Buch "Die Hörigkeit der Frau".
Von der Bedeutung der Nationalökonomie
Einen wichtigen Beitrag leistete Mill auch für die Nationalökonomie. Dabei unterschied er zwischen der politischen Ökonomie und der Sozialökonomie.

Während die politische Ökonomie die Gesetze analysiert, die die Produktion und den Tausch regulieren, untersucht die Sozialökonomie den Bereich der Distribution, der gesellschaftlichen Verteilung des erworbenen Vermögens.

Hier bezog sich Mill auf frühsozialistische Ideen, die er während eines Aufenthalts in Frankreich kennen gelernt hatte.
"Ende der Arbeit"
"Ich bekenne, dass ich mich nicht mit dem Lebensideal derjenigen befreunden kann, welche dafürhalten, dass fortwährendes Gegeneinander-Ankämpfen der normale Zustand menschlicher Wesen sei", so Mill.

Er wollte dazu beitragen, "menschliche Wesen zu befähigen, für und miteinander unter Verhältnissen zu arbeiten, welche Abhängigkeit nicht bedingen".

John Stuart Mill starb am 7. Mai 1873 in Avignon. Seine letzten Worte waren: "Ich habe meine Arbeit getan."

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft, 18.5.06
->   John Stuart Mill (Stanford Encyclopedia of Philosophy)
->   John Stuart Mill (Wikipedia)
->   Werke von Mill (Projekt Gutenberg)
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Literaturhinweise:
John Stuart Mill: "Über die Freiheit", Reclam Verlag, Band 3491, "Der Utilitarismus", Reclam Verlag, Band 9821
Peter Rinderle: John Stuart Mill, C.H. Beck Verlag
Peter Ulrich/Michael S. Assländer: John Stuart Mill. Der vergessene politische Ökonom und Philosoph, Haupt Verlag
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01.01.2010