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NS-Zwangsarbeit in der österreichischen Wasserkraft  
  Zahlreiche Wasserkraft-Werke in Österreich gehen auf die Kriegswirtschaft der Nationalsozialisten und den Einsatz von Zwangsarbeitern zurück. Wiener Zeithistoriker haben die erste umfassende empirische Studie zur NS-Zwangsarbeit in der Elektrizitätswirtschaft in der damaligen "Ostmark" vorlegt.  
12.000 Einzelschicksale
Die Studie basiert auf 12.000 Einzelschicksalen. Diese Schicksale der Zwangsarbeiter bleiben teils ungewiss (bei einigen Baustellen sind die Zahlen über KZ-Häftlinge, Kriegsgefangene und zivile ausländische Arbeitskräfte ungenau), teils lassen sich die Arbeitsbedingungen genau rekonstruieren.
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Das Buch zur Studie
Die Studie wurde vom Böhlau-Verlag als Buch herausgegeben.
Rathkolb, Oliver/ Freund, Florian (Hg.): NS-Zwangsarbeit in der Elektrizitätswirtschaft der "Ostmark", 1938-1945 (Ennskraftwerke, Kaprun, Draukraftwerke, Ybbs-Persenbeug, Ernsthofen). Wien: Böhlau-Verlag. 2003. 55¿.
->   Böhlau-Verlag
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Beispiele Großraming und Kaprun
Am Aufbau des Enns-Kraftwerks Großraming zum Beispiel mussten 1.610 namentlich bekannte KZ-Häftlinge mitarbeiten, 100 Kriegsgefangene und 498 zivile Arbeitskräfte. An der Baustelle für das Tauernkraftwerk Kaprun arbeiteten zwangsweise bis zu 4.000 Kriegsgefangene und 6.339 zivile Ausländer.
Ungenaue Zahlen zu Opfern der NS-Zwangsarbeit
Die Zahlen zu den Zwangsarbeitern in der österreichischen E-Wirtschaft schwanken - je nach Quelle und deren Interpretation. Außerdem sind im Begriff "Zwangsarbeit" KZ-Häftlinge enthalten, genauso wie Kriegsgefangene, Justizhäftlinge oder zivile ausländische Arbeitskräfte.

Nach Auskunft des Zeithistorikers Florian Freund kann man insgesamt von mindestens 1.760 KZ-Häftlingen, 5.000 Kriegsgefangenen und 9.977 zivilen, ausländischen Arbeitskräften ausgehen. KZ-Häftlinge wurden laut Freund in Ternberg und Großraming eingesetzt. (Großraming war eine Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen.)
Quellen: Archive von Österreich bis USA
Die Zeithistoriker haben in Archiven in Österreich, Deutschland, Russland und den USA recherchiert sowie in Unterlagen von Gemeinden und Krankenkassen. Außerdem haben sie Interviews mit Zeitzeugen geführt.
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Alltag im Lager: KZ Großraming
"Lagerführer Ludolf nahm täglich an den Appellen teil und ließ auf sich stundenlang warten. Dann hat er persönlich jene Häftlinge bestimmt, denen die letzte Essensration ausgeteilt werden musste. Dies dauerte ungefähr eine halbe Stunde und hat vor allem im Winter den Zweck, den Tod bei körperschwachen Häftlingen zu beschleunigen. Das gelang ihm vor allem sehr gut bei Frost, wo vor allem Häftlinge mit Wassersucht einfach erfroren. In der Früh beim Abgang zur Arbeit kam es sehr oft vor, dass die Körperschwachen auf Grund der Erschöpfung am Boden liegen blieben. Dazu hat öfters Ludolf bemerkt, Seht, sie sterben lieber, als dass sie bereit wären eine Arbeit zu leisten; das sind Simulanten. Gewöhnlich hat er zu seiner Bemerkung laut gelacht. Manchmal hat er körperschwache Häftlinge aus der marschierenden Kolonne herausgezogen und gefragt, Du willst nicht mehr arbeiten, ich werde dir helfen¿ und ordnete dann bestimmten Blockältesten an, er möge sich den [sic!] Körperschwachen annehmen. [...] Diese schleppten den Körperschwachen in den Waschraum und bearbeiteten ihn mit kaltem Wasser, bis er erfror."

(Zitat aus dem Buch. Bericht von Stanislaus Zadrobilek vom 14.5.1945)
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Großraming: Jeder Siebte starb
Von den 1.610 namentlich bekannten KZ-Häftlingen in Großraming starben während der Zwangsarbeit 227 Menschen. Die offizielle Todesursache der meisten war "Lungenentzündung", "Herzmuskelentzündung" oder "Kräfteverfall".

Zwölf wurden laut Aufzeichnungen des Lagerarztes "auf der Flucht erschossen". Sieben wählten den angeblichen "Freitod" durch "Starkstrom", "Elektrozaun" oder "Erhängen".
Mörderische Arbeitsbedingungen in Kaprun
Die Baustelle des Tauernkraftwerks Kaprun befand sich im Hochgebirge. Lawinen, herabstürzende Felsbrocken oder Steinschlag stellten eine ständige Bedrohung dar. Zudem waren die Zwangsarbeiter schlecht ausgerüstet - zum Beispiel mit steifen und rutschigen Holzsohlen an den Schuhen, wie die Zeithistorikerin Margit Reiter in ihrem Kapitel beschreibt.
"Nachkriegsmythos" Kaprun
Kaprun galt nach dem Krieg als Symbol des österreichischen Wiederaufbaus, meint die Zeithistorikerin Margit Reiter.

Diesen Mythos gelte es zu hinterfragen, denn der Bau des Kraftwerkes basiere nicht nur auf Unterdrückung und Zwangsarbeit, sondern wurde auch bis zu seiner Fertigstellung 1955 aus Mitteln des Marshall-Plans finanziert.
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Neue Gedenktafel
Die Gedenktafel in Kaprun trägt derzeit die Inschrift "Aus Arbeit und Opfer ein Werk". Sie soll im Zuge der Studie einen neuen Text erhalten - welchen, sei noch unklar, sagte "Verbund"-Vorstandssprecher Hans Haider gegenüber dem ORF-Radio, jedoch sei der Termin bereits bekannt (26.8.2003), an dem das Tauernkraftwerk Kaprun eine neue Gedenktafel erhält.
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Makaberes Resümee
Gewinne standen in der NS-Zeit nicht im Vordergrund, heißt es in der Einleitung zum Buch, sondern die rasche Entwicklung der Infrastruktur und letztlich der Rüstung.

Makaberes Resümee der Studie: Ohne diesen Infrastrukturschub wäre die E-Wirtschaft in Österreich um fünf bis sechs Jahre der europäischen Entwicklung nachgehinkt.
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25 Jahre Ludwig Boltzmann-Institut für Geschichte
Das Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft wurde vor 25 Jahren - im Jahr 1977 - von der Zeithistorikerin Erika Weinzierl gegründet und damals an der Universität Salzburg angesiedelt. Zwei Jahre später, 1979, übersiedelte die Einrichtung in die Bundeshauptstadt und wurde an das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien geknüpft. Co-Leiter sind heute Oliver Rathkolb und Siegfried Mattl. In den Mittelpunkt der 25-Jahr-Feier rückten die Wissenschaftler das Thema Zwangsarbeit.
->   Das Ludwig Boltzmann-Institut
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Untersuchte Kraftwerke
In dem Buch "NS-Zwangsarbeit in der Elektrizitätswirtschaft der 'Ostmark', 1938-1945" werden die Kraftwerke Ternberg, Rosenau, Garsten, Staning, Mühlrading, Großraming, Kaprun, Schwabeck, Lavamünd, Drauburg, Marburg, Ybbs-Persenbeug und Ernsthofen untersucht.
Initiative des "Verbund", 2,5 Millionen Euro
Die Studie geht auf eine Initiative des Elektrizitätsunternehmens "Verbund" im Jahr 1998 zurück. Wobei Herausgeber Oliver Rathkolb betont, dass das Unternehmen keinen Einfluss auf die Arbeit der Wissenschafter genommen habe.

Vorstandssprecher des "Verbund", Hans Haider, betonte auf der Buchpräsentation am Montag, im Zuge der Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter habe sein Unternehmen einen Betrag "höher als notwendig" geleistet. Auf ORF-Nachfrage konkretisierte Haider: Der Verbund hätte in den Versöhnungsfonds 28 Millionen Schilling (2,03 Mio. Euro) einbezahlen müssen, habe aber 35 Millionen Schilling (2,54 Mio. Euro) zur Verfügung gestellt.

Barbara Daser, Ö1-Wissenschaft
->   Verbund
->   Mehr über NS-Zwangsarbeit in science.ORF.at
 
 
 
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01.01.2010