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"Oldies but Goldies": Neue Evolutionstheorie des Alterns  
  Die klassische Evolutionstheorie des Alterns kann nicht erklären, warum sich manche Lebewesen - einschließlich des Menschen - auch dann noch bester Gesundheit erfreuen, wenn sie keinen Beitrag mehr zur Fortpflanzung leisten. Ein amerikanischer Forscher hat nun eine neue Theorie entworfen und zeigt, dass die herkömmliche Betrachtungsweise eindeutig zu kurz greift. Viele Lebewesen investieren nämlich nicht nur in die Geburt ihrer Kinder, sondern auch in deren Aufzucht.  
Und genau hier kommen nach Ronald D. Lee von der University of California, Berkeley, die älteren Generationen zurück ins evolutionäre Spiel: Je mehr die Senioren an der Aufzucht von Jungtieren beteiligt sind, desto eher wird die Lebensspanne einer Spezies über das reine Fortpflanzungsalter hinausreichen.
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Die Studie "Rethinking the evolutionary theory of aging: Transfers, not births, shape senescence in social species" von Ronald D. Lee erschien als Online-Vorabpublikation der "Proceedings of the National Acadamey of Sciences" und wird in Zukunft unter dem DOI "10.1073_pnas. 1530303100" aufzufinden sein.
->   PNAS
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Nicht trivial: Sterblichkeit hängt von Alter ab
Dass die Wahrscheinlichkeit eines natürlichen Todes zu sterben mit dem Alter zunimmt, entspricht so sehr der Alltagserfahrung, dass man dafür kaum eine gesonderte Erklärung einfordern wollte. Für Biologen ist der Zusammenhang von Sterblichkeit und Lebensalter jedoch ein nicht-triviales Problem.

Prominente Autoren wie P.B. Medawar und G.C. Williams nahmen sich in den 1950er dieses Problems an und formulierten ein evolutionstheoretisches Argument, das bis heute als die klassische Antwort auf die Frage "Warum altern Organismen?" angesehen wird.
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Phänomen Altern: Typen von Theorien
Fragt man nicht nach den evolutionären (die Frage "Wozu?"), sondern nach den genetischen und physiologischen Ursachen des Alterns (die Frage "Wie?"), dann lauten die Antworten freilich ganz anders. Hier spielen dann Alterungstheorien eine Rolle, welche etwa die Rolle der Telomere für die Zellteilung oder die Schädigung von Molekülen durch freie Radikale berücksichtigen.
->   Mehr zu verschiedenen Theorien des Alterns
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Die evolutionstheoretische Erklärung
Die Erklärung in der Traditon von Medawar und Williams sieht - im Telegrammstil - folgendermaßen aus: Wenn Organismen (nach Lebensjahren) älter werden, dann wird ihr Beitrag zur Fortpflanzung immer geringer.

Und zwar deshalb, weil die Fruchtbarkeit mit der Zeit abnimmt. Aus diesem Grund verhindert die natürliche Selektion hohe Sterblichkeitsraten eher bei jungen Tieren als dies bei alten der Fall ist.

Anders ausgedrückt: Wäre da nicht die unterschiedliche Fruchtbarkeit von jungen und alten Organismen, dann gäbe es eigentlich keinen evolutionären Grund, warum letztere eher unter Krankheiten (und ähnlichen lebensverkürzenden Einflüssen) leiden sollten.
Fortpflanzung als entscheidendes Kriterium
Der britische Biologe William Donald Hamilton war der erste, der diese Erklärung formalisiert hat. Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist die so genannte reproduktive Fitness: Biologische Eigenschaften werden diesem Konzept zufolge immer an ihrem Fortpflanzungswert gemessen - sei er nun direkt oder indirekt gegeben.
Lees Theorie: Nicht nur Reproduktion, ...
Genau an diesem Punkt setzt nun die neue Theorie von Ronald D. Lee an: Er argumentiert, dass die bisher vorherrschende Konzentration auf die Fruchtbarkeit den biologischen Verhältnissen nicht gerecht wird. Seinem Modell zufolge investieren Eltern auf zweierlei Arten in ihre Nachkommen. Erstens in deren Geburt - und zweitens in deren Aufzucht.
... sondern auch Aufzucht entscheidend
Letzteres muss nicht einmal die eigenen Kinder betreffen. Von den bekanntesten Delphinen, den großen Tümmlern, weiß man etwa, dass auch Großeltern ihre Enkel nicht nur beaufsichtigen und beschützen, sondern sogar säugen.

Und aktuelle anthropologische Studien weisen z.B. darauf hin, dass in bestimmten Pygmäen-Gesellschaften durchschnittlich elf Personen den Eltern bei der Kindererziehung zur Hand gehen.
Argumentationsstil aus Soziobiologie bekannt
Eine Denkweise, die an sich nicht so neu ist. Bei der Erklärung von kooperativem Verhalten (Stichwort "inclusive fitness") greift man seit langem auf solche Phänomene zurück. Interessanterweise wurde das Investment in die Kinder-Aufzucht aber noch nie bei den Theorien des Alterns berücksichtigt.

Ronald D. Lees Theorie füllt nun diese Lücke. Ihre Vorteile: Sie ist mathematisch formuliert und kann erklären, warum manche Lebewesen ein hohes Alter erreichen, obwohl sie relativ früh ihre Fruchtbarkeit einbüßen.
Eine "schöne" Theorie
Auch ein anderer Umstand spricht für Lees neues Modell: Berechnet man die Stärke der natürlichen Selektion bei Arten, die keinerlei Investment in die Aufzucht ihrer Kinder tätigen, dann erhält man die selben Ergebnisse wie mit Hamiltons klassischer Theorie.

Mit anderen Worten: Mit diesem Ansatz kann eine neue Klasse von Phänomenen zwanglos erklärt werden, ohne dass bewährte Konzepte über Bord geworfen werden müssen. Eine Eigenschaft, die Wissenschaftstheoretiker für gewöhnlich ins Schwärmen geraten lässt.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Homepage von R.D. Lee (Univ. Berkely)
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01.01.2010