Host-Info
Birgit Sauer
Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Birgit Sauer :  Gesellschaft 
 
"Clash of Civilizations": Eine Theorie sucht ihre Empirie  
  Seit einigen Tagen haben die zunächst gesichtslosen Attentäter von New York und Washington Gesichter - mit braunen Augen, dunklem Teint, Bärten und Turbanen. Sie bilden eine visuelle Einheit mit dem Symbol des "Bösen", dem Führer todesbereiter Terrorgruppen, Osama bin Laden.  
Beginn des "Kulturkampfes"?
Nun werden stellvertretend "arabisch aussehende" Menschen beschimpft, bespuckt und angegriffen, islamische Einrichtungen werden bedroht, Geschäfte zerstört. - Ist das, was seit dem 11. September passiert, der "Clash of civilizations", wie ihn der Harvard-Professor und Leiter des "Instituts für Strategische Studien", Samuel P. Huntington, seit Beginn der neunziger Jahre prophezeit?

Hat also die provokante Theorie des Politologen wieder einmal ihre Empirie, ihre schrecklich-blutige Wirklichkeit gefunden?
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Gute Theorien analysieren kritisch
Die Eingängigkeit der Metapher vom "Zusammenprall der Kulturen" ist freilich nicht Ausweis ihrer Gültigkeit. Eine Theorie ist dann eine gute Theorie, wenn sie die Wirklichkeit nicht nur wiederholt und verdoppelt - egal ob vorher- oder nachhersagend -, sondern wenn sie die Wirklichkeit kritisch analysieren und zum Besseren verändern kann.
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Ende der nationalstaatlichen Konflikte
Der Ausgangspunkt von Huntingtons Buch ist die veränderte weltpolitische Konstellation nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus. Wurde die bipolare Ordnung des Kalten Krieges durch die Aufteilung der Welt in hegemoniale Einflusssphären stabilisiert, so sind in der Ära neoliberaler Globalisierung die Nationalstaaten durch Migration, durch vagabundierende Produktionsstätten und Märkte in Frage gestellt.

Deshalb, so Huntington, seien in der Post-Kalter-Krieg-Ära Konflikte nicht mehr nationalstaatlich verankerter "ideologischer, politischer oder ökonomischer", sondern "kultureller Art". An die Stelle der bipolaren Staatenwelt sei eine multipolare Welt unterschiedlicher Kulturkreise getreten - die sinische, japanische, hinduistische, islamische, westliche, lateinamerikanische und afrikanische Kultur.
Zusammenhang Ökonomie - Kultur ignoriert
Kann man Huntington in der Diagnose der Restrukturierung der Weltpolitik noch folgen, so führen die folgenden vier Aspekte seines Kulturkreis-Theorems zu fatalen Fehlschlüssen.

Erstens: Auch wenn der Konnex von "Staat und Konflikt" erodiert, ist es fahrlässig, das Verschwinden von materiellen Interessen oder Machtgelüsten globaler Akteure, seien das Staats- und Wirtschaftsmänner oder selbst ernannte Führer, anzunehmen.

Da Huntington den Zusammenhang zwischen Kultur und Ökonomie ignoriert, schreibt er Weltgeschichte so, als sei sie als Geschichte ökonomischer Herrschaftsverhältnisse an ihr Ende gelangt. Demgegenüber sind aber die Huntingtonschen "kulturellen" Konfliktkonstellationen Ergebnisse auch ökonomisch-hegemonialer Bedingungen. Auch die aktuellen Konflikte müssen in diesem Spannungsfeld begriffen werden.
Schlichte Freund-Feind-Schemata
Zweitens: Die Einteilung der Welt in multipolare Kulturkreise kommt als objektive Analyse daher, ist aber vielmehr Interpretation, und dazu noch eine oberflächliche: Denn was ist "der" Westen? Ist das McDonald's, Kapitalismus, Freiheit und Gleichheit, oder ist das Auschwitz? Was ist "der" Islam - lediglich Teil des "Rests" des Westens (so eine Kapitelüberschrift in Huntingtons Buch)?

Solch verallgemeinernde "Catch all"-Kategorien sperren sich einer differenzierten Betrachtung und bergen die Gefahr der Stereotypisierung und Feindbildproduktion. Huntingtons Metapher ist anschließbar an das Schmittsche Freund-Feind-Schema, das in Endlosschleifen Gegensätze generiert - das "Böse" gegen das "Gute", die "Zivilisierten" gegen die "Barbaren". Diese schlichten Muster erklären die Wirklichkeit nicht, sondern stutzen sie auf instrumentalisierbare Ausschnitte zurecht.
Produktion von Wirklichkeit verschleiert
Drittens: Huntington definiert Kulturen als distinkte ethnische Gruppen, Nationalitäten und Religionen und setzt diese Charakteristika als gegeben voraus. Doch kulturelle Differenzen sind "vorgestellte" Größen, die nicht einfach so existieren. Sie müssen mobilisiert werden, um mit ihnen Politik zu machen oder Krieg zu führen.

Huntington gibt vor, die Wirklichkeit zu beschreiben, und verschleiert damit die Produktion von Ideen wie "der" Westen oder "der" Islam zum Zwecke ihrer Instrumentalisierung für politische oder ökonomische Ziele, für Emotionen wie Hass und Eifer. Wen wundert es, wenn ein Wissenschaftler solche Verwirrung stiftet, dass die Menschen vor den Fernsehschirmen kaum noch unterscheiden können zwischen "dem Islam" und jenen Gruppen gewalttätiger Attentäter?
Nicht "Kulturen", sondern Menschen ...
Viertens: Die Theorie des "Clash of Civilizations" nimmt keine Menschen wahr, sie kennt nur "Kulturen". Sie kann deshalb keine Beweggründe verstehen, weder Hass und Verzweiflung noch Gier und Zynismus.

Es ist nicht "der Islam", der die menschenverachtende Aktion begangen hat, sondern es waren gewaltbereite Individuen, Menschen mit einer Geschichte. Auch die Opfer des Attentats sind Menschen, die Trauer um sie bedarf emotionaler und mentaler Räume, für die die Huntingtonsche dichotome Zange zu eng ist.
... sind Träger von Rechten und Freiheit
Auch um die derzeit viel gepriesenen westlichen "Werte" zu wahren, müssen Menschen als Akteure in den Blick genommen werden - wer sonst als Individuen sollen Träger von Menschenrechten und von Freiheit sein?

Eine Theorie zur Veränderung der Wirklichkeit muss Menschen wahrnehmen und anerkennen, sonst wiederholt sie den Zynismus der Selbstmordattentäter oder jener Eskalateure, die Kabul "auslöschen" wollen. Deshalb ist der "Zusammenprall der Kulturen" eine schlechte Theorie.
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Der vorliegende Text erschien auch im "Falter" vom 19. September 2001.
->   Falter
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->   John M. Olin Institute for Strategic Studies, Harvard University
->   Auszug aus Huntingtons "Clash of Civilizations"
Weitere Beiträge von science.orf.at-Wissenschaftsautoren zu den Konsequenzen der Anschläge gegen die USA:
->   Reinhold Wagnleitner: Hintergründe der US-Reaktionen auf den Terror
->   Werner Lenz: Bildung gegen Gewalt
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->   Ulrich Körtner: Religion und Gewalt
 
 
 
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