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Ekel-Geräusche: Hohe Frequenz löst Schmerz aus  
  Eines ist schon mal beruhigend: Wir haben keine Phobie, keinen Tick oder sonstige psychische Störungen, wenn uns das Fingernagelkratzen an der Schultafel unangenehm ist oder sogar Schmerzen bereitet. Unser Ohr verträgt hohe Frequenzen einfach nicht und reagiert mit Schmerz. Diese sensible Ader scheint ein hirnphysiologisches Überbleibsel aus den tierischen Urzeiten des Menschen: Hochfrequente Töne dienten als Warnsignal bei potenzieller Gefahr.  
Warum dieses Rudiment den einen Menschen unangenehm ist und es sogar Aggression oder Schmerzen auslöst und bei anderen nicht, lässt sich durch die subjektive Wahrnehmung, die Schmerzgrenze des Ohrs beziehungsweise die akustische Sensibilität jedes Individuums erklären, wie Experten für die User von science.ORF.at erläutern.
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Die Frage der Woche im Wortlaut
Stephan M.: "Wieso empfinden manche Menschen Schmerzen (z.B. im Kiefer oder den Zähnen), wenn jemand mit den Fingernägeln an der Schultafel kratzt oder mit Kreide abrutscht, und andere nicht?"
->   Frage der Woche samt User-Forum
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Hohe Ton-Frequenzen unangenehm
"Prinzipiell sind Töne und Geräusche ab einer bestimmten Frequenz für das menschliche Gehör unangenehm", erläutert Michaela Kress, Vorstand der Abteilung für Physiologie und Medizinische Physik der Medizinischen Universität Innsbruck.

"Man stelle sich nur den hohen Frequenzpegel am Flughafen vor. Nicht umsonst werden hier regelmäßig Messungen durchgeführt, ob der Geräuschpegel nicht eine bestimmte Grenze überschreitet", so Kress.

Denn bei besonders hohen Frequenzen - und dazu zählt auch das Geräusch vom Fingernagelkratzen an der Tafel oder die von Web-Usern gebrachten Beispiele einer Rückkoppelung bei einem Audiogerät und das Quietschen von abrupt bremsenden Zügen - kommt es zu einer Überschreitung der Schmerzgrenze des Gehörs.

"Dies ist eine Art Warnsignal: Das Ohr kann nämlich bei längerem Einwirken dieser hohen Frequenz dauerhaft geschädigt werden", fügt die Physiologin hinzu.
Rudiment aus tierischen Urzeiten
Aber warum ist der Mensch gar so empfindlich auf hohe Frequenzen? "Diese akustische Sensibilität dürfte wohl ein Rudiment aus den tierischen Urzeiten des Menschen sein", fügt Jürgen Sandkühler, Leiter der Abteilung für Neurophysiologie des Wiener Zentrums für Hirnforschung hinzu.

"Man weiß aus dem Tierreich, das viele Tiere Ultraschallfrequenzen nutzen, um eine Alarmsituation zu signalisieren", so Sandkühler.

Derartige hohe Frequenzen wie Fingernagelkratzen an der Tafel schlagen uns ja auch wort- und sprichwörtlich in die Flucht. Der Schmerz gibt also an: Gefahr in Verzug!
Das Phänomen der "Synalgie"
Dies umschreibt auch Web-User "andini" richtig: "Ein Sinnesreiz kann neben der normalen Wahrnehmung unwillkürlich zusätzliche Empfindungen auslösen, bei der Stimulation des Hörzentrums im Gehirn werden gewisse Teile im Gehirn zusätzlich erregt."

"Diese Alarmfunktion könnte ihre Ursachen in der Entwicklung der Kommunikation haben, denn durch hohe, unangenehme Geräusche (Sirenen, Warnpfiffe der Murmeltiere, Kreischen der Affen) wird dem Adressat des Geräuschs nahe gelegt, die Flucht zu ergreifen. Sozusagen eine Sprache, die nicht durch den Wortsinn, sondern durch eine Frequenzüberlagerung wirkt", vermutet der User.

User "Andini" spricht von Synästhesie. Genauer bezeichnet man dieses Phänomen als eine Synästhalgie oder Synalgie: Dies ist ein Schmerz, der an einer vom Schmerzreiz entfernten Körperstellen empfunden wird. Warum dies bei manchen Menschen so ist, gehört zu den international heißen Forschungsthemen.
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Synästhesie (griech. für die Mitempfindung, auch zeitliches "Zusammen-Fühlen"): Überwiegend versteht man darunter die Kopplung zweier physikalisch getrennter Domänen der Wahrnehmung, etwa Farbe und Temperatur ("warmes Grün"), im engeren Sinne die Wahrnehmung von Sinnesreizen als die eines anderen. Menschen, bei denen derart verknüpfte Wahrnehmungen regelmäßig auftreten, werden als Synästhetiker bezeichnet.
->   Mehr zur Synästhesie bei Wikipedia
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Nicht für alle gleich unangenehm
Ebenso wissenschaftlich unklar ist die Tatsache, dass nicht alle Menschen empfindlich auf Fingernagelkratzen an der Tafel reagieren.

"Prinzipiell hat jeder Mensch ein unterschiedliches Schmerzempfinden. Hier mag aber wohl auch die selektive Wahrnehmung wirken", so Sandkühler. "Außerdem ist nicht bei jedem das Rudiment aktiv. Während der eine auf hohe Frequenzen mit Ekel und Schmerz reagiert, lösen diese beim anderen nicht einmal Aufmerksamkeit auf."
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Fragenbank auch bei "Innovatives Österreich"
Fragen jeder Art zum Thema Wissenschaft kann man auch bei der Online-Plattform "Innovatives Österreich" stellen. Daraus entsteht eine öffentliche zugängliche "Fragenbank", die interessantesten Probleme werden an Experten zur Beantwortung weitergeleitet. Regelmäßig präsentiert das Ö1-Radio und science.ORF.at die "Frage des Monats".
->   innovatives-oesterreich
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Interessanter Vergleich
Obwohl Psychologen einen Zusammenhang des unangenehmen, Schmerz auslösenden Fingernagelkratzens mit psychischen Phänomenen wissenschaftlich nicht belegen können, klingt der Vergleich des Web-Users "fianchetto" sehr interessant:

"Weiterhelfen kann hier vielleicht auch ein Blick auf die analoge Problemstellung, wie visuelle Reize kognitiv attributiert werden." Die meisten Studien zu Menschen würden belegen, so der User, dass Phobien wie etwa vor Schlangen und Spinnen kulturell bzw. individuell erlernt seien. Andererseits gäbe es aber sicher auch eine gewisse kognitive Prädisposition, bestimmte visuelle, auditive und geruchliche Reize einfach zu meiden.
Fingerknacken kein rudimentäres Alarmsignal
Sicher ist, dass das Fingerknacken nicht in die Kategorie "rudimentäres Alarmsignal" fällt. Vielmehr mag es bei manchen Menschen eine Art "psychische Überreizung" auslösen oder als "unangenehme Provokation" eingestuft werden, die man - zumindest im sprichwörtlich Sinn - auch als tierisches Überbleibsel einstufen kann. Im Klartext: Das Fingerknacken geht einem dann tierisch auf die Nerven.

Eva-Maria Gruber, 16.1.2005
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"Ask Your Scientist": Stellen Sie auch weiterhin Fragen
science.ORF.at lädt seine User ein, im Rahmen von "Ask Your Scientist" auch weiterhin Fragen per E-mail (askyourscientist@orf.at) zum Thema Wissenschaft zu stellen.
->   Das "Ask Your Scientist" Archiv
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->   Zentrum für Hirnforschung, Medizinische Universität Wien
->   Institut für Physiologie und Med. Physik, Medizinische Universität Innsbruck
 
 
 
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