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Stolpersteine auf dem Weg zur "Theorie für Alles"  
  Sollte es dereinst eine "Theorie für Alles" geben, dann dürfte sie weder der Quanten- noch der Relativitätstheorie widersprechen. Eines der Hauptprobleme, diese beiden Theorien zusammenzuführen, besteht darin, dass sie völlig unterschiedliche Konzepte von Raum und Zeit besitzen.  
Im einen Fall stellen Raum und Zeit eine fixe Bühne für physikalische Vorgänge dar, im anderen Fall sind sie hingegen nichts Gegebenes, sondern erhalten ihre Eigenschaften erst durch die Anwesenheit von Materie.

Dennoch gibt es zwei heiße Kandidaten, denen man zutraut, diese und andere Hürden zu meistern. Ihre Namen: String- und Loop-Theorie.
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Die Frage im Wortlaut
Rüdiger F.: "Man sagt immer, dass die Physiker eine 'Theorie für Alles' anstreben, dass sich aber Quanten- und Relativitätstheorie nicht so ohne weiteres unter einen Hut bringen lassen? Warum? Was zeichnet die beiden Theorien aus, dass sie sich gegen eine Verschmelzung auf höherer Ebene sträuben?
->   Zur Frage samt Diskussionsforum
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Geschichte der Vereinheitlichung
Man kann die Geschichte der Physik mit gutem Recht auch als Geschichte großer Vereinheitlichungen lesen: So ist bereits die Gravitationstheorie von Isaac Newton eine Art Vereinheitlichung, weil mit ihr die irdische Physik fallender Körper mit den selben Prinzipien erklärt wird, wie die Bewegungen der Planeten.

Wirklich begonnen hat der Trend zu immer umfassenderen Theorien jedoch mit James Clerk Maxwell, der im 19. Jahrhundert nachwies, dass Elektrizität und Magnetismus Manifestierungen ein und desselben Naturphänomens, nämlich des Elektromagnetismus sind.

Albert Einstein gelang Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Speziellen Relativitätstheorie die Zusammenführung der einst getrennten Begriffe von Masse und Energie, die u.a. deshalb interessant ist, weil sie sich die Newtonsche Physik gewissermaßen einverleibt und ihren Betrachtungsrahmen erweitert hat.
Große Fische, kleine Fische
Gute Theorien verhalten sich demnach wie große Fische, die kleine Fische fressen, die noch kleinere Fische gefressen haben usw. - sie enthalten die bisher bewährten Konzepte meist als Grenzfall und können daher mehr Phänomene erklären.

Ein Beispiel dafür ist eine Anomalie der Merkurbahn, die für Newtons Gravitationstheorie ein Rätsel darstellte, mit Hilfe der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) hingegen durch die Krümmung der Raumzeit in der Umgebung der massereichen Sonne erklärt wurde.
Endziel "Theorie für Alles"?
Was spricht also dagegen, dass man immer umfassendere, immer "größere" Theorien entwirft, bis man schlussendlich zu einer "Theorie für Alles" kommt, die die gesamte Physik enthält?

Aus ästhetischer Sicht spricht gar nichts dagegen, und auch aus physikalischer Sicht hat man Interesse daran: Beispielsweise sagt die ART Zustände der Raumzeit - so genannte Singularitäten - voraus, in denen gewisse Größen, wie etwa Krümmung, Druck oder Temperatur, unendlich werden. Solche Zustände sollten dem heutigen Verständnis nach etwa zu Beginn des Urknalls geherrscht haben und auch in Schwarzen Löchern existieren.

Das Problem dabei sei allerdings, so Franz Embacher vom Institut für theoretische Physik der Uni Wien, dass man Singularitäten mit Hilfe der ART zwar voraussagen, aber nicht konsistent beschreiben könne. Sie sind gewissermaßen blinde Flecken auf der Landkarte der Raumzeit.
->   Singularität - Wikipedia
Zwei Konzepte von Raum und Zeit
Von einer noch umfassenderen Theorie erhofft man hingegen, dass sie an dieser Aufgabe nicht scheitert. Das könnte beispielsweise eine sein, die Quantentheorie und Allgemeine Relativitätstheorie zusammenführt. An diesem Projekt arbeiten Physiker schon seit Jahrzehnten, eine abschließende Theorie der Quantengravitation gibt es jedoch noch nicht.

Das liegt zunächst daran, dass beide Konzepte die Natur völlig unterschiedlich betrachten, erklärt Franz Embacher: "In der Quantentheorie werden Raum und Zeit gewissermaßen als fixe Bühne eingeführt, auf der dann Teilchen und Kräfte wirken. In der ART sind hingegen Raum und Zeit selbst Variablen - sie sind abhängig von der Materie, die im Raum vorhanden ist."
Das Problem der Quantisierung
Könnte man sich bei der "Verheiratung" von Gravitation und Quantentheorie nicht am Beispiel der Quantenelektrodynamik orientieren, die ja bereits erfolgreich den Elektromagnetismus quantenfeldtheoretisch beschreibt?

Nicht unbedingt, meint Herbert Balasin vom Institut für theoretische Physik der TU-Wien: "Das Problem ist, dass die bisher angewandten Standardverfahren der so genannten Quantisierung Raum und Zeit als gegeben voraussetzen." Und gerade das sei bei der ART eben nicht möglich.
Eine Welt voller Unschärfen
Angenommen, man könnte sämtliche mathematische Schwierigkeiten überwinden - wie sähe dann eine "Theorie für Alles" aus? "Sie würde auf jeden Fall die Unschärfe von Zuständen, so wie man sie aus der Quantentheorie kennt, übernehmen", so Embacher:

"Etwa im Bereich der Zeit: Bei Werten unterhalb der Planck-Zeit (ca. 10-43 Sekunden, Anm.) wären Vorher und Nachher nicht klar bestimmt." Ähnlich könnte man auch bei Entfernungen unterhalb der Planck-Länge (ca. 10-35 Meter) den Abstand von Objekten nicht mehr genau angeben. Womit sich die Frage stelle, wie eine solche Theorie überhaupt - via Experiment - an die Wirklichkeit anzubinden ist:

"Eine Theorie der Quantengravitation wäre zunächst eine mathematische Theorie, die ein Näherungskonzept entwirft. Wie man das physikalisch interpretieren würde, ist noch offen."
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Fragenbank auch bei "Innovatives Österreich"
Fragen jeder Art zum Thema Wissenschaft kann man auch bei der Online-Plattform "Innovatives Österreich" stellen. Daraus entsteht eine öffentliche zugängliche "Fragenbank", die interessantesten Probleme werden an Experten zur Beantwortung weitergeleitet. Regelmäßig präsentieren das Ö1-Radio und science.ORF.at die "Frage des Monats".
->   innovatives-oesterreich.at
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Makroskopische Effekte
Obwohl sich die Wirkungen der Quantengravitation nur in extremen Bereichen von Raum, Zeit und Energie zeigen sollten, könnte sie auch mit dem groben Wahrnehmungsraster unserer Messinstrumente eingefangen werden:

"Dann nämlich, wenn sich die Effekte makroskopisch verstärken", erklärt Balasin: "So könnte sich etwa die Strahlung von extrem weit entfernten Gammastrahlenblitzen in ihrer Laufzeit verschieben." "Eine andere Möglichkeit wären etwa statistische Schwankungen in der Hintergrundstrahlung", ergänzt Embacher.
Zwei Favoriten: Loops und Strings
Jedenfalls haben sich in den letzten Jahren zwei viel versprechende Kandidaten einer "Theorie für Alles" herauskristallisiert. Da sind zum einen die verschiedenen Varianten der String-Theorie, die eher von Elementarteilchenphysikern favorisiert wird, zum anderen die jüngere Loop-Quantengravitation, deren Anhänger häufig mit der Relativitätstheorie gearbeitet haben.

Beide haben Vor- und Nachteile: "Ein Plus der Stringtheorie ist, dass sie explizit alle vier Grundkräfte der Natur, d.h. starke und schwache Kernkraft, Elektromagnetismus und Gravitation, vereinheitlicht. Allerdings geht sie von einem Hintergrundraum aus, nimmt also die dynamische Betrachtungsweise der ART nicht ganz ernst", so Balasin.

Die Loop-Theorie dürfte zwar bei der Quantisierung von Raum, Zeit und Materie die Nase vorne haben, dafür ist es zweifelhaft, ob man mit diesem Schema jemals etwas über alle vier Grundkräfte aussagen wird können.

Welchen der beiden Entwürfe man bevorzugt, ist nach Ansicht von Experten zur Zeit Geschmackssache. Balasin und Embacher jedenfalls dürften einen ähnlichen Theorie-Geschmack besitzen: Sie würden sich beide im Zweifelsfall für die Loop-Theorie entscheiden.

Robert Czepel, science.ORF.at, 15.5.06
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->   Stringtheorie - Wikipedia
->   Loop-Quantengravitation - Wikipedia
 
 
 
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