Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Leben  Gesellschaft 
 
Gott und Gehirn  
  Die Hirnforschung stellt die Theologie vor neue Herausforderungen.  
Der Mensch und sein Gehirn
Die alte Frage nach dem Verhältnis von Leib, Geist und Seele, Bewußtsein und Gehirn gewinnt durch die Hirnforschung neue Brisanz. Die eigenständige Realität von Bewußtsein oder Seele wird in Frage gestellt, ebenso die Willensfreiheit und damit die Schuldfähigkeit des Menschen. Das Ich ist vielleicht nur eine nützliche Illusion des Gehirns.
Geistes- und Naturwissenschaften
Obwohl auch die Theologie und ihre Sicht des Menschen von den Ergebnissen der Hirnforschung massiv berührt ist, setzen sich bislang nur wenige Theologen mit ihnen auseinander. Dabei ist das interdsziplinäre Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaften nötiger denn je, soll ein erkenntnistheoretischer Reduktionismus vermieden werden.
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Wider den Reduktionismus
So faszinierend die bisherigen Ergebnisse der Hirnforschung sind, so problematisch ist es, wenn die Neurobiologie zur allumfassenden Basiswissenschaft aufgewertet wird. Dies führt dazu, daß begriffsbeschichtlich hoch aufgeladene Begriffe wie "Geist", "Subjekt" oder "Person" unreflektiert in die Naturwissenschaften übernommen werden, ohne die Differenz verschiedener Deutungsebenen oder "Sprachspiele" (L. Wittgenstein) zu beachten.


Literatur: Das Gehirn und sein Ich? Beiträge zur Reduktionismusproblematik am Beispiel Geist-Gehirn. Werkstattbericht des Arbeitskreises Naturwissenschaft und Theologie, Evangelische Akademie Iserlohn.
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Komplementäre Wirklichkeitsbeschreibungen
Die naturwissenschaftliche Beobachterperspektive und die Binnenperspektive des Beobachteten fallen nicht zusammen und lassen sich nicht in einer Metatheorie synthetisieren. Es bleibt immer ein Unterschied, ob ich sage: "In bestimmen Hirnregionen finden bei Herrn XY gerade Aktivitäten statt", oder ob Herr XY sagt: "Ich freue mich über die schöne Musik von Beethoven, die ich gerade höre."
Der Mensch und seine Sprache
Die Neurobiologie befaßt sich auch mit dem Bewußtsein von Tieren und gibt damit neue Einblicke in das Tier-Mensch-Übergangsfeld, die philosophisch und theologisch Beachtung verdienen, nicht zuletzt im Blick auf die Fragen einer Tierethik. Menschsein macht sich freilich nicht am Bewußtsein als solchem, sondern an der Sprache als einem Medium symbolischer Deutung fest. Auch die Neurobiologie und ihre Theorien sind eine Form des Deutens, d.h. eine symbolische Form der Wirklichkeitserhellung.
Geist läßt sich verstehen als eine Systemeigenschaft, die mit der Sprache entsteht und nicht in physikalisch beschreibbaren Prozessen aufgeht. Der Geist bildet sich m.a.W. in einem System aus, das mit seiner Hilfe über sich nachdenken und sich verändern kann. Ob man Geist und Seele nochmals unterscheidet, ist eine Frage der philosophischen Sprachregelung.
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Das menschliche Ich
Das Ich ensteht nicht nur in Verbindung mit Sprache, sondern auch durch intersubjektive Kommunikation. Es verdankt sich einem entwicklungspsychologisch beschreibbaren Prozeß. Hinzu kommt, daß jeder Mensch mehrere "Ichs" in sich trägt, ein "Ich" der Wahrnehmung, eines des Gedächtnisses, eines der Gefühle, ein anderes der Willenshandlungen. Schon semantisch ist "ich" ein vielseitiger Begriff. Es steht gewissermaßen für eine komplexe Systemeigenschaft, nicht für eine substanzhafte Instanz.
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Konsequenzen für den Schöpfungsglauben
Was kann es unter diesen Umständen bedeuten, mit Martin Luther zu sagen: "Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen"? Diese religiöse Selbstdeutung macht Sinn, sofern mit ihr der gesamte Prozeß der Personwerdung des Menschen von der Zeugung an gemeint ist. Das Ich oder das, was die religiöse Tradition "Seele" nennt, steckt nicht schon in den Erbinformationen der befruchteten Eizelle.
Der Schöpfungsglaube beantwortet keine Fragen der Biologie, sondern diejenige nach dem Sinn menschlichen Daseins, auf welche die Hinforschung keine Antwort gibt. Die Frage, ob die Materie, die fähig ist, "Ich"-Bewußtsein hervorzubringen, vielleicht ein Geist-Prinzip in sich trägt, bleibt diskutabel, ohne daß sich die heutigeTheologie auf eine bestimmte Antwort festlegen würde.
Hat der Mensch eine Seele?
Mit "Seele" läßt sich die Tatsache bezeichnen, daß der Mensch eine Identität ausbildet, sich artikulieren und sich zu sich selbst verhalten kann. Zweifelhaft und theologisch keineswegs notwendig ist allerdings die Annahme einer unsterblichen Seele, die neben dem menschlichen Körper existiert und den Tod überdauert.


Die Auferweckung der Toten, auf welche der christliche Glaube hofft, ist nach Ansicht vieler heutiger Theologen als ein Akt völliger Neuschöpfung zu denken. Was ihr zugrunde liegt, wäre demnach, bildhaft gesprochen, die Treue Gottes und sein Gedächtnis der Verstorbenen.
Geist und Kultur
Nun existiert der Mensch nicht als Einzelwesen, sondern in Gemeinschaft und eingebettet in eine Kultur. Was die Seele oder der Geist für den Einzelnen, ist die Kultur für die Gesellschaft. Diese hat ihrerseits ein kollektives Gedächtnis, das nicht nur in den Gehirnen der Individuen, sondern in den Bibliotheken, Datenbanken und Archiven gespeichert ist. Die individuelle Identität formt sich aus im Wechselspiel mit dem kollektiven kulturellen Gedächtnis.
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Buchtip
Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 2. Aufl. München 1999. - Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000.
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Kultur und Gehirn
Die kulturelle Welt, die Welt der Symbolsysteme und der Sprache, wirkt auf das einzelne Bewußtsein und also auf das Gehirn zurück. Die Behauptung, der Geist hänge vom Gehirn ab oder sei dessen Abfallprodukt - wie der Urin dasjenige der Niere -, wäre zu simpel. Es entsteht vielmehr ein eingeständiges System von Zeichen und Bedeutungen (Sir Karl Poppers "Welt 3"), die systemtheoretisch von biologischen Systemen unterscheidbar ist. Die in den Gehirnen und durch Kommunikation entstehende geistige Welt wird in der Kultur materialisiert und wirkt in ihren Objektivationen auf die Individuen zurück.
Gott und Natur
Die Hirnforschung zeigt deutlich, daß sich eine naturwissenschaftliche und eine theologische Deutung von Natur auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. Was theologisch mit "Schöpfung" gemeint ist, muß zwar an der Natur aufgezeigt, es kann aber nicht aus der Natur abgeleitet werden. Naturwissenschaftliche Wirklichkeitsbeschreibung und theologische Deutung stehen teilweise zueinander in Spannung. Bestenfalls sind sie komplementär.
So bemüht sich heutige Theologie darum, Gott stärker als Beziehungswesen und nicht als Substanzwesen zu denken. Es besteht ein Konsens heutiger Theologie in einer relationalen Ontologie. Noch weiter geht die von A.N. Whitehead und Ch. Hartshorne begründete Prozeßtheologie, welche den Gottesbegriff von personalistischen Konnotationen ablöst.
Die Neurobiologie fordert die Theologie jedenfalls heraus, ihr Gottesverständnis und ihre anthropologischen Grundbegriffe zu überdenken und zu präzisieren.
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Buchtip
Caspar Söling, Das Gehirn-Seele-Problem. Neurobiologie und theologische Anthropologie, Paderborn 1995
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In Geschichten verstrickt
Menschsein heißt in Geschichten verstrickt sein (Wilhelm Schapp). Um zu sagen, wer ich bin, muß ich meine Geschichte erzählen. Religiös gedeutet heißt Mensch sein, in eine Geschichte mit Gott verstrickt zu sein. Die Verstrickung in Geschichten aber ist mehr als die Summe aller Hirnfunktionen. Nicht zuletzt deshalb brauchen wir auch im Zeitalter der Neurobilogie den interdisziplinären Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.
 
 
 
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