Host-Info
Ulrich Körtner
Institut für Systematische Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät und Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien
 
ORF ON Science :  Ulrich Körtner :  Gesellschaft 
 
Krieg und Moral
Friedensethik in Zeiten des Krieges
 
  Für Aufsehen sorgt ein Artikel des Frankfurter Soziologen Karl Otto Hondrich in der "Neuen Zürcher Zeitung". Er verteidigt den Irak-Krieg als notwendige Machtdemonstration des einzige verbliebenen Hegemons auf dem Weg zu einer neuen "Weltgewaltordnung". Die Kirchen dagegen haben weltweit den Irakkrieg scharf verurteilt. Hondrich ist jedoch der Ansicht, daß das christliche Gebot der Gewaltlosigkeit den Frieden nicht fördere, sondern im Gegenteil gefährde. Die Thesen Hondrichs mögen als einseitig empfunden werden und zum Widerspruch reizen. Allerdings läßt auch der friedensethische Kurs der Kirchen einige Fragen offen.  
Auf dem Weg zu einer neuen Weltgewaltordnung?
Zu den Schwächen des Völkerrechts zählt noch immer das Fehlen eines internationalen Gewaltmonopols. Mit der Bildung nationaler Gewaltmonopole wurde ein historischer Prozeß eingeleitet, der am Ende zum Aufbau einer internationalen Weltgewaltordnung führen soll. Sie kann nach Hondrichs Überzeugung jedoch nicht ohne einen Hegemon auskommen, "der die Einzelgewalten entmachtet und im gleichen Zuge sich selbst als Übergewalt herausbildet". Dies sei derzeit die historische Rolle der USA.

Aufgrund dieser Überlegungen findet der Irakkrieg bei Hondrich eine erstaunliche Rechtfertigung: "Ginge es in ihm nur im den Irak, genügte die Kriegsdrohung. Aber nur der Krieg selbst zeigt, was die Drohung allein nicht zeigen kann: das die USA sie wahr machen."

K.O. Hondrich, Auf dem Weg zu einer neuen Weltgewaltordnung, NZZ 22.3.2003

Da keine Ordnungsmacht und Gewalt stark genug sei, "um alle Gewalt gleicher- und gerechtermaßen zu unterdrücken", müßten einzelne "Exempel" statuiert werden, von denen eine abschreckende Wirkung ausgehe. Und genau das geschehe im Krieg gegen Saddam Hussein.
Der Krieg als Hoch-Zeit der Moral
Besonders Augenmerk richtet Hondrich auf die Funktion der Moral in Fragen von Krieg und Frieden. Kriege seien stets "die Hoch-Zeit der Moral", und zwar einer Moral, die auf dem "Gesetz der Rezipozität" (vulgo: wie du mir, so ich dir) beruhe, das auch als Goldene Regel bekannt ist. Die Kriegsgefahr steige mit der Verletzbarkeit des modernen Menschen, zu der "paradoxerweise auch die gesteigerte Moral" beisteuere, die ihn eigentlich schützen solle.

Als Beispiel für gesteigerte Moral, die Gewalt gegen ihre eigene Absicht nicht verhindere, sondern fördere, führt Hondrich das christliche Gebot der Gewaltlosigkeit an. Solange dieses nämlich nicht von allen Menschen befolgt werde, mache es seine Anhänger verwundbarer.

Während das Christentum zumeist dafür kritisiert wird, von der radikalen Liebesethik Jesu v. Nazareth und seiner Aufforderung zur Gewaltlosigkeit und Feindesliebe (vgl. Matthäus 5,9.38-42.43-48) abgewichen zu sein, indem sogar eine Lehre vom gerechten Krieg entwickelt wurde, hält Hondrich genau umgekehrt die Ethik der Gewaltlosigkeit für friedensgefährdend.
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Universale Moral und okzidentale Moral aus dem Geist des Christentums
Schon in seinem Buch "Wieder Krieg" hat Hondrich diese These vertreten. In ihm unterscheidet Hondrich eine "universale Moral", die der Goldenen Regel bzw. dem Gesetz der Reziprozität folgt, und "eine okzidentale Moral aus dem Geist des Christentums und der Aufklärung", die zwar universale Geltung beansprucht, faktisch aber keine Weltgeltung besitze.

Literaturhinweis: H.O. Hondrich, Wieder Krieg (edition suhrkamp 2297), Frankfurt a.M. 2002
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Lehrbeispiel Kosovo-Krieg
Die christliche Moral selbst sehe sich zwar als Alternative zum Krieg: "Wäre sie verwirklicht, so meinen wir, würden sich Kriege erübrigen. Tatsächlich ist es umgekehrt: Eine Moral, die keine Grenzen zwischen den Kulturen, also keine Autonomielösungen und nationale Eigenständigkeit anerkennen will, verhindert nicht den Krieg, sondern führt ihn herbei. Der Kosovokrieg liefert dafür das Lehrbeispiel." (Wieder Krieg, S. 24).

"Nicht Atavismen und niedere Instinkte sichern dem Krieg eine lange Zukunft, sondern die Eigendynamik einer Moral mit universalistischem Anspruch" (Wieder Krieg, S. 25).

Entsprechend kritisch äußert sich Hondrich (in seinem NZZ-Artikel) auch zum Projekt eines Weltethos, wie es seit Jahren von dem katholischen Theologen Hans Küng propagiert wird: "Sechs Milliarden Menschen über den gleichen moralischen Leisten zu schlagen - das wird die Konflikte der Kulturen und Interessen nicht abmildern, sondern anheizen."
Gewaltmonopol und Gewaltenteilung
Hondrichs Thesen sind aus guten Gr?nden nicht unwidersprochen geblieben. Da? der Irakkrieg durch das "Gesetz der Reziprozit?t" zu rechtfertigen sei, ist entschieden zu bestreiten. Sollte dieser Krieg tats?chlich, wie Hondrich unterstellt, als "Vergeltung f?r die ungeheure kollektive Verletzung" gedacht sein, die den USA am 11. September 2001 widerfahren ist, w?re dies moralisch verwerflich. Denn weder hat das Regime in Bagdad die Anschl?ge in New York und Washington ver?bt, noch darf das Faustrecht, die Lynchjustiz, an die Stelle rechtsstaatlicher S?hne treten.

Problematisch ist auch die Art und Weise, wie Hondrich die Staatstheorie Th. Hobbes' f?r das 21. Jahrhundert aktualisieren m?chte. Allzu einseitig erkl?rt er, da? Ordnung nicht Gleichverteilung, sondern Unterdr?ckung von Gewalt durch noch mehr Gewalt bedeute. Auch die Entstehung des innerstaatlichen Gewaltmonopols, das heute mit Recht als gro?e Kulturleistung gepriesen wird, wird einseitig als Ergebnis gewaltt?tiger Auseinandersetzungen und nicht etwa eines friedlichen Vertragsabschlusses gleicher und freier B?rger gedeutet.

Demgegen?ber ist hervorzuheben - was Hondrich in anderem Zusammenhang selbst betont hat -, da? n?mlich die dauerhafte Akzeptanz des staatlichen Gewaltmonopols nicht ausschlie?lich und prim?r auf Gewaltandrohung, sondern auf der Herrschaft des Rechts und einer Ordnung beruht, die von den B?rgern und B?rgerinnen als gerecht empfunden wird.

Nationalstaatliches Gewaltmonopol und demokratische Gewaltenteilung und Kontrolle staatlicher Gewalt schlie?en einander nicht aus, sondern sind beide eine wesentliche Bedingung f?r eine stabile Friedensordnung.

Durch eine blo?e ?bermacht an staatlicher Gewalt werden sich die privatisierte Gewalt und der internationale Terrorismus nicht besiegen lassen. Im Gegenteil beunruhigt allein schon die Beobachtung, da? sich gerade in den USA das staatliche Gewaltmonopol innerstaatlich gegen privaten Waffenbesitz und Waffenlobbyisten nur mit Einschr?nkungen behauptet.

Und auch au?enpolitisch werden uns wechselnde "Koalitionen von Willigen" anstelle von durch die Vereinten Nationen legitimierten Milit?raktionen einem v?lkerrechtlich legitimierten und demokratisch kontrollierten internationalen Gewaltmonopol nicht n?herbringen, sondern im Gegenteil zum R?ckfall in den Krieg aller gegen alle f?hren.
Frieden durch Recht und Gerechtigkeit
Man kann daher die Aussage kirchlicher Stellungnahmen zur Friedensethik nur unterstreichen, daß dauerhafter Frieden nicht durch Gewalt und Gewaltandrohung, sondern durch Versöhnung, durch Recht und Gerechtigkeit gestiftet und bewahrt wird. Die Konzentration auf die sicherheitspolitischen Gefahren, die von neuen Formen des Terrorismus oder der Aufrüstung von Schwellenländern mit Massenvernichtungswaffen ausgehen, darf nicht dazu führen, die Ursachenforschung und die internationalen Probleme sozialer und ökologischer Gerechtigkeit zu vernachlässigen.

Das ist konkret zu bedenken, wenn es darum geht, Prioritäten beim Einsatz finanzieller und personeller Ressourcen für militärische und polizeiliche Aufgaben auf der einen Seite, für präventive Diplomatie und zivile Konfliktprävention, aber auch für Entwicklungshilfe und nachhaltige Umweltpolitik auf der anderen Seite zu setzen.
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Max Webers Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik
Nicht wirklich neu ist Hondrichs Kritik am christlichen Gebot der Gewaltlosigkeit. Schon der Soziologe Max Weber hat in seinem berühmten Vortrag über "Politik als Beruf" (1919) erklärt, mit der Bergpredigt lasse sich keine Politik machen. Sie vertrete eine reine Gesinnungsethik, die sich nicht um die politischen Folgen ihres Tuns kümmere, sondern diese der göttlichen Vorsehung überlasse. Eine säkulare Ethik sei aber nur als Verantwortungsethik denkbar, bei der der Mensch auch für die Folgen seines Handelns einstehe.
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Mit der Bergpredigt Politik machen
Hondrich muß allerdings einräumen, daß "auch die Prinzipien der christlichen Moral, wie die Vergebung, Kriege beenden oder sie gar nicht erst entstehen lassen" können (Wieder Krieg, S. 27). Faktisch gäbe es schon lange "eine Kooperation von universaler und okzidentaler Moral, ohne daß wir ihre Wirkungsweise ganz einsehen und ihre Folgen kennen" (ebd.).
Christliche Friedensethik auf dem Prüfstand
Auch wenn man Hondrich nicht in allem zustimmen kann, lohnt es sich doch, über das Verhältnis von christlicher Moral, Krieg und Frieden neu nachzudenken. Ohnehin steht die Friedensethik der Kirchen, die sich in seltener Einmütigkeit, aber vergeblich weltweit gegen den Irakkrieg ausgesprochen haben, auf dem Prüfstand.
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Die neue Lehre der Kirchen vom "gerechten Frieden"
"In der Zielsetzung christlicher Ethik liegt nur der Friede, nicht der Krieg." Auf diese Formel brachte bereits 1981 die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) "Frieden wahren, fördern und erneuern" den friedensethischen Grundkonsens der christlichen Kirchen mitten in den heftigen Auseinandersetzungen um den Nato-Doppelbeschluß.

Man kann in ihr den Ertrag der friedensethischen Diskussion der vergangenen Jahrzehnte erblicken. Sie zielt darauf ab, die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg durch eine Lehre vom gerechten Frieden abzulösen, wie sie bereits vom Bund der Evangelischen Kirchen und von der ökumenischen Versammlung der Kirchen in der DDR 1989 gefordert worden ist.

Auch das von der katholischen Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2000 veröffentlichte Friedenswort stand unter der Überschrift "Gerechter Friede".
->   EKD-Text: Schritte auf dem Weg des Friedens (3. Aufl. 2001)
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->   Deutsche Bischofskonferenz: Gerechter Friede (2000)
Das Nein der Kirchen zum Irakkrieg
Beachtet man die Kontinuität und ökumenische Konvergenz der grundlegenden friedensethischen Aussagen der letzten Jahrzehnte, verwundert es nicht, daß die Kirchen weltweit - auch in Österreich - in großer Einmütigkeit den Krieg gegen den Irak verurteilt haben. Viele kirchliche Verlautbarungen zum Irakkonflikt haben ein starkes gesinnungsethisches Gefälle, insofern jegliche Gewaltanwendung zur Durchsetzung der UN-Resolution 1441 schon vor Kriegsausbruch kategorisch abgelehnt wurde.

Nun mag man zwar zu Recht den Ausbruch des Irakkrieges als Niederlage der Politik, ja mehr noch als "Niederlage der Menschheit" beklagen, wie es der Papst und andere Kirchenführer getan haben. Doch auch der friedenethische Kurs der Kirchen wirft einige Fragen auf.

Weltweit ist der Krieg gegen den Irak von den Kirchen verurteilt worden, da er weder völkerrechtlich noch ethisch zu rechtfertigen sei. Nun kann man über die ethische und völkerrechtliche Legitimität der Gewaltanwendung gegen den Irak durchaus geteilter Meinung sein. Sorgen bereiten auch offenkundige strategische und politische Fehleinschätzungen der USA und ihrer Verbündeten sowie die Unklarheit über die Nachkriegsordnung.

Bemerkenswert ist aber die Selbstsicherheit und Einseitigkeit, mit der die EKD und andere Kirchen bereits in der Phase der Bemühungen um eine diplomatische Lösung des Irakkonflikts schon die bloße Drohung mit militärischer Gewalt kritisiert haben, obwohl diese doch durchaus in der Logik des Kapitels VII der Charta der Vereinten Nationen (ChVN) lag. Im übrigen erscheint die Unterscheidung zwischen legitimer - und notfalls gewaltsamer - Entwaffnung des Irak und einem vermeintlich illegitimen Intervention zum Zweck des Regimewechsels abstrakt, wenn man die Geschichte der Irakkrise seit 1990 verfolgt.
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"Unmoralisch und völkerrechtswidrig"
Am 24. Januar 2003 erklärte der Rat der EKD noch, nach den Regeln des Völkerrechts wäre ein Angriff auf den Irak "derzeit (!)nicht zu rechtfertigen" und würde alle anderen Möglichkeiten, die UN-Resolution 1441 durchzusetzen, mit denen die EKD offenbar noch rechnete, zunichte machen.

Kurz darauf, am 5. Februar, erklärten Kirchenführer aus Europa, den USA und dem nahen Osten in einer gemeinsamen Stellungnahme in Berlin kategorisch, militärische Gewalt sei in jedem Fall ein ungeeignetes Mittel, um die Abrüstung irakischer Massenvernichtungswaffen zu erreichen. Alle sonstigen von den USA und ihren Verbündeten vorgebrachten Gründe für einen möglichen Krieges gegen den Irak, also ein als Akt der Selbstverteidigung verstandener Präventivkrieg oder gar ein Regimewechsel in Bagdad, seien eindeutig völkerrechtswidrig und würden von den Kirchen auch moralisch abgelehnt.
->   Die Berliner Erklärung vom 5.2.2003 im Wortlaut
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Offene Fragen
Nun kann man die Warnung der Kirchenführer einschließlich des Papstes vor den möglichen negativen Folgen des jetzt geführten Krieges für die Region und für das Völkerrecht nur zu gut verstehen. Manche Aussagen der Berliner Erklärung waren dennoch ethisch fragwürdig, um nicht zu sagen blauäugig.

Ein grundlegender Widerspruch bestand darin, daß die Kirchen auf die Fortsetzung der UN-Waffeninspektionen bestanden, ohne zu sagen, was im Falle ihres Scheiterns zu tun sei. Überhaupt wurde der Umstand, daß die Wiederaufnahme der im Oktober 1998 abgebrochenen Waffeninspektionen und jeder noch so kleine Fortschritt ausschließlich durch die militärische Drohung der USA und Großbritanniens erwirkt wurde, von den Kirchen notorisch ausgeblendet.

Daß die Hoffnung auf eine vermeintlich friedliche Lösung, deren Erfolgsaussichten mehr als fraglich waren, auf der Androhung von Gewalt beruhte, wurde kirchlich tabuisiert und somit der ethischen Reflexion entzogen. Mehr als ein hilfloser Appell an den Irak, mit den Vereinten Nationen zu kooperieren, war der Stellungnahme der Kirchenführer nicht zu entnehmen.

Daß sich der Irak über all die Jahre beharrlich geweigert hat, den zahlreichen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates Folge zu leisten, blieb unerwähnt. Welche Maßnahmen zu ergreifen seien, wenn sich das Regime in Bagdad der in der UN-Resolution 1441 geforderten sofortigen und vollständigen Kooperation verweigern würde - was ja faktisch bis zuletzt der Fall war - ließen die Kirchen offen.
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Legitime Gewaltandrohung
Klarsichtiger war in diesem Punkt das Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Auch dieses äußerte am 24.1.2003 gegenüber einem möglichen Angriff auf den Irak größte Bedenken. Gleichzeitig stellte das Zentralkomitee aber fest, daß die Politik Saddam Husseins, in den Besitz von Massenvernichtungsmitteln zu gelangen, eine weltweite Bedrohung des Friedens darstelle. "Mit vollem Recht" hätten daher die Vereinten Nationen "scharfe politische Maßnahmen zur Eindämmung der Kriegsgefahr ergriffen und der irakischen Führung damit gedroht, notfalls militärische Mittel zum Einsatz zu bringen". Auch sei man sich darüber im Klaren, daß im Dienste einer friedlichen Lösung "die glaubhafte Bereitschaft zu militärischem Handeln unmißverständlich erkennbar bleiben muß".
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Ratlosigkeit und Verlegenheit
Diese unmißverständliche Haltung fand in späteren kirchlichen Stellungnahmen keine Unterstützung. Eine realpolitische Alternative zur gewaltsamen Beseitigung der Diktatur im Irak hatten die Kirchenführer freilich nicht anzubieten. Der blumige Appell der Berliner Erklärung vom 5. Februar, den Menschen im Irak müsse "die Hoffnung gegeben werden, daß es Alternativen sowohl zur Diktatur als zu Krieg gibt", verriet nur die eigene Ratlosigkeit und Verlegenheit.

An einen friedlichen Regimewechsel wird wohl im Ernst niemand geglaubt haben. Ein gewaltsamer Aufstand oder ein Tyrannenmord wäre zwar eine Alternative zum Krieg gewesen, kaum aber als gewaltfreie Lösung zu bezeichnen.
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Alternative: Fortführung der Sanktionen und Inspektionen?
Zweifelhaft war auch die plakative These, die der Exekutivausschuß des Ökumenischen Rates der Kirchen (Genf) in seiner Erklärung vom 18.-21. Februar 2003 aufstellte, "daß der sorgfältig gestaltete Mechanismus der UN-Waffeninspektionen ein langfristig einzusetzendes Instrument ist und 20 Jahre Inspektionen wirksamer, billiger und sachdienlicher sind als 20 Tage Krieg".

Ob die von manchen christlichen Sozialethikern unterstützte Idee einer Eindämmungspolitik gegenüber dem Irak zu einer wirklichen Lösung des Konflikts geführt hätte, erscheint politischen Beobachtern durchaus ungewiß. Auch wurde nicht offen diskutiert, daß die von den Kirchen geforderte langfristige Fortführung der Inspektionen auch eine Fortsetzung der Sanktionen, d.h. aber die Anwendung einer bestimmten Form von Gewalt, bedeutet hätte.

Wohl beklagte die Berliner Erklärung das Leiden irakischer Kinder und den unnötigen Tod hunderttausender Iraker als Folge der von der UNO seit zwölf Jahren verhängten Sanktionen. Nicht angesprochen wurde freilich, daß die Hauptverantwortung für diese Lage bei Saddam Hussein lag, der gegenüber dem UN-Sicherheitsrat unbeugsam blieb.

Die Ablehnung von militärischer Gewalt zur Lösung des Irakkonflikts bei gleichzeitiger Kritik der Sanktionspolitik und die Unklarheit der eigenen Vorstellungen von zielführenden Alternativen war letztlich widersprüchlich.
->   Die Stellungnahme des ÖRK im Wortlaut
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Beschädigtes Völkerrecht
Formale Völkerrechtswidrigkeit und ethische Legitimität schließen einander nicht in jedem Fall aus. Grundsätzlich sollte allerdings außer Streit stehen, daß jede Maßnahme zur Lösung internationaler Konflikte daraufhin zu befragen ist, ob sie das Völkerrecht stärkt und seine Weiterentwicklung fördert oder beeinträchtigt und untergräbt.

Der Irakkrieg kann in der Tat nur als Scheitern der Politik betrachtet werden. Zu ihrem Scheitern haben aber auch jene beigetragen, welche Zweifel an der Entschlossenheit der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber dem Irak aufkommen ließen, z.B. indem sie eine zweite UN-Resolution durch ihr Vetorecht auf sachlich durchaus fragwürdige Weise verhindert haben oder von vornherein einen Militäreinsatz selbst für den Fall, daß der UN-Sicherheitsrat ihn beschlossen hätte, kategorisch ablehnten.

Schon der Kosovo-Krieg warf die Frage auf, was in einem konkreten Konfliktfall zu tun sei, wenn der UN-Sicherheitsrat offensichtlich nichts tun will oder handlungsunfähig ist. In solch einem Fall kann das ethische Dilemma in einer Übelabwägung bestehen, in der man in jedem Fall Schuld auf sich lädt.

Selbst wenn es für eine Kritik am Vorgehen der USA und ihrer Verbündeten gute Gründe gibt, hätte ich mir doch insgesamt von den Kirchen mehr Nachdenklichkeit und Kritikfähigkeit gegenüber dem UN-Sicherheitsrat gewünscht.
"Gerechter Friede" und "gerechter Krieg"
Die Ereignisse um den Irakkrieg lassen Unklarheiten der in den letzten Jahrzehnten entwickelten Lehre vom "gerechten Frieden" zutage treten. Schon der Zerfall Jugoslawiens, der Bosnien-Krieg und der Kosovo-Konflikt führten den Kirchen den utopischen Charakter der Vorstellung von der Überwindung der Institution des Krieges vor Augen.

Damit aber ist die Frage unausweichlich, ob nicht auch weiterhin eine christliche Lehre vom gerechten Krieg notwendig bleibt und entsprechend der friedenspolitischen Herausforderungen am Beginn des 21. Jahrhunderts weiterentwickelt werden muß.

Die friedensethischen Stellungnahmen der letzten Jahre räumen ein, daß im Konfliktfall Recht auch mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden muß. Grundlegend für die ethische Bewertung militärischer Gewaltanwendung ist z.B. aus Sicht der EKD "eine Art gleitender Skala", wonach der Einsatz militärischer Mittel um so eher zu rechtfertigen ist, "je enger sie im Sinne von Notwehr oder Nothilfe auf den Schutz bedrohter Menschen, ihres Lebens, ihrer Freiheit und der demokratisch-rechtsstaatlichen Strukturen ihres Gemeinwesens bezogen bleibt und je gezielter und begrenzter sie nur die militärischen Angriffsmittel zerstört".
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Militärische Gewalt als "ultima ratio"
Die Behauptung der Kirchen, ihre neue Lehre vom Einsatz militärischer Gewalt als "ultima ratio" und "Grenzfall", der aber wirklich Grenzfall bleiben müsse, bedeute die endgültige Überwindung der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg, überzeugt nur bedingt.

Zwar kann man nur unterstreichen, daß terminologische Unterscheidungen notwendig sind und daß Begriffe wie "Krieg" oder "Terrorismus" sorgfältiger gebraucht werden müssen, als dies in der öffentlichen und politischen Diskussion bisweilen der Fall ist. Faktisch aber wird die Lehre vom gerechten Krieg einschließlich der Lehre vom "ius ad bellum" nicht gänzlich verworfen, sondern neu interpretiert, was aber offenkundig aus innerkirchlicher Rücksichtnahme auf divergierende friedensethische Grundpositionen nicht offen beim Namen genannt werden darf.

An diesem Umstand ändert auch die Rede vom Einsatz militärischer Gewalt als "ultima ratio" nichts. Auch wer den Krieg begrenzt, macht ihn - ob er will oder nicht - "führbar".
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Kein apokalyptischer Kampf "Gut gegen Böse"
Die theologische Kritik richtet sich freilich gegen apokalyptische Phantasien vom Kampf des Guten gegen das Böse und gegen jede Dämonisierung politischer Gegner. Mit Recht wenden sich darum die Kirchen gegen jeden Mißbrauch von Religion zur Legitimation kriegerischer Gewaltanwendung.

Von einem Kreuzzug gegen den Terrorismus zu sprechen verbietet sich ebenso wie die Dämonisierung einzelner Staaten als Achse des Bösen oder ein messianisches Sendungsbewußtsein, das sich auf den Willen Gottes beruft. Die Kritik der Kirchen an der religiös aufgeladenen Diktion des amerikanischen Präsidenten George W. Bush ist nachdrücklich zu unterstreichen. Gerade auf dem Gebiet der Friedens- und Sicherheitspolitik könnten die Folgen eines - womöglich noch apokalyptisch aufgeladenen - Handlungszwangs fatal sein.

Auch ist das intensive Gespräch der Kirchen mit Vertretern des Islam ein wichtiger Beitrag zur Friedenspolitik. Mag die Position der Kirchen zum Irakkrieg nicht ganz unproblematisch sein, so muß man ihnen doch zugute halten, daß sie den Versuchen von Fundamentalisten, diesen Krieg zu einen Kreuzzug des Christentums gegen den Islam oder einem Kampf der Kulturen umzudeuten, den Boden entziehen.
Der polemogene Charakter von Moral
Theologische Kritik muß aber nicht nur am Mißbrauch der Religion für politische Zwecke, sondern auch an der Leugnung von faktisch vorhandener Gewalt und Gewaltbereitschaft geübt werden. Das gilt nicht nur für den politischen Bereich, sondern auch für die Religionen, die sich heutzutage selbst gern in der Rolle der Friedensstifter sehen. Offensichtlich ist die Problematik einer Ethik des Weltfriedens, weil bislang nicht erkennbar ist, auf welchem Wege ein Weltethos begründet und vor allem weltweit konsensfähig werden soll.

Zunächst einmal ist festzustellen, daß Ethos oder Moral nicht eo ipso der Eindämmung von Krieg und Gewaltanwendung dienen, sondern im Gegenteil "polemogenen" Charakter (Niklas Luhmann) tragen. Daß aber der Widerstreit moralischer Werte und der Konflikt divergierender Ethiken in ein universales Weltethos aufgehoben werden könnte, ist eine fragwürdige Vorstellung.
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Religion und Moral
Interreligiöse Dialogbemühungen dürfen sich nicht auf echte oder vermeintliche Konvergenzen der Religionen beschränken. Sie müssen sich produktiv mit der konfliktträchtigen Konkurrenz religiöser Geltungsansprüche, aber auch mit dem "Abschied vom Prinzipiellen" (O. Marquard) auseinandersetzen, den die modernen pluralistischen Gesellschaften vollziehen.

Sollen religiöse Geltungsansprüche nicht in Unterdrückung und Gewalt umschlagen, stellt sich die Frage, wie pluralismusfähig insbesondere die monotheistischen Religionen sind und wieviel Religion der moderne demokratische und weltanschaulich plurale Rechtsstaat verträgt (R. Schieder).
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Heilsame Skepsis
Die Aufgabe der Theologie besteht nicht zuletzt darin, zu einem redlichen und selbstkritischen Umgang mit dem Gewaltpotential anzuleiten, das in einem jeden von uns steckt. Dieses wird weithin tabuisiert. Würden wir nämlich "Gewalt als grundlegend auch für die eigene Gesellschaft erkennen und anerkennen, könnten wir sie nicht mehr nur bekämpfen und müßten an uns selbst irre werden" (K.O. Hondrich).

Zum christlichen Glauben gehört allemal eine gute Portion Skepsis, sowohl gegenüber jedem moralischen Enthusiasmus, als auch gegenüber einem übersteigerten Sicherheitsdenken, welche beide in einer Art von Omnipotenz- und Ubiquitätswahn für alles und jedes Verantwortung übernehmen und sich damit überheben wollen.

Auch der "Krieg gegen den Terrorismus" zehrt z.T. von einer Weltfriedensutopie, die nicht minder gefährlich wie der bekämpfte Terrorismus selbst werden kann. Demgegenüber dient gerade die Selbstbegrenzung des Menschen auch in sicherheitspolitischen Fragen dem Frieden.

Der "ewige Frieden" (Immanuel Kant) ist von Menschen freilich nicht zu schaffen und weder zu erzwingen noch zu garantieren. Frieden im umfassenden Sinne des Wortes bleibt eine die Grenzen des Machbaren transzendierende Gabe. Zur humanen Selbstbegrenzung im Sinne des christlichen Glaubens gehört es darum auch, nicht nur der ideologischen Überfrachtung des Friedensbegriffs, sondern auch seiner politischen Banalisierung entgegenzuwirken.
 
 
 
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