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Multiple Persönlichkeiten verwenden verschiedene Nervenbahnen  
  Die Multiple Persönlichkeitsstörung ist bis heute eine der umstrittensten psychiatrischen Diagnosen. Eine Person besitzt dabei zwei oder mehr Identitäten, die sich gravierend unterscheiden können. Doch Forschungen konzentrieren sich mittlerweile auch auf mögliche Unterschiede im Gehirn von Betroffenen - wie eine aktuelle Studie, die sich bildgebender Methoden bedient hat. Das Ergebnis: Die verschiedenen Persönlichkeiten verwenden tatsächlich unterschiedliche Nervenbahnen im Gehirn.  
Jede Persönlichkeit scheint demnach ihr eigenes "Netzwerk" an Nerven zu verwenden, um Erinnerungen ins Gedächtnis zu rufen bzw. zu unterdrücken, wie der Online-Dienst von "Nature" berichtet. Die Forscher von der Rijksuniversiteit Groningen veröffentlichten ihre Ergebnisse im Fachjournal "NeuroImage".
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Der Artikel "One brain, two selves" ist erschienen in "NeuroImage", Bd. 20, Seiten 2119 - 2125 (doi:10.1016/j.neuroimage.2003.08.021).
->   Abstract des Artikels (www.sciencedirect.com)
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Missbrauchserfahrung und alternative Identität
Die Entwicklung von zwei oder mehr alternativen Persönlichkeiten bzw. Identitäten wird meist als das Ergebnis schwer traumatischer Erlebnisse in der Kindheit verstanden. Der Theorie zufolge ist sie etwa Folge von Missbrauchserfahrungen.

Jener Zustand, von Medizinern als Multiple Persönlichkeitsstörung oder Dissoziative Identitätsstörung bezeichnet, scheint den Betroffenen bei der Bewältigung der Traumata zu helfen, indem er die schmerzhaften Erinnerungen ausklammert und die Geschehnisse als etwas erscheinen lässt, das jemand anderem passiert (ist).

Tatsächlich können Betroffene Persönlichkeiten aufweisen, die sowohl emotional als auch ihre physischen Fähigkeiten betreffend sehr unterschiedlich sind. In einem in der aktuellen Studie geschilderten Fall konnte etwa Persönlichkeit Nr. 1 Volleyball spielen, während Persönlichkeit Nr. 2 sich dabei äußerst ungeschickt anstellte.
->   Mehr Information in www.medicine-worldwide.de
Noch immer umstrittene Diagnose
Das Phänomen ist allerdings immer noch umstritten. Nach ersten Fällen in den 1970er Jahren kam es zunächst zu einem starken Anstieg an Diagnosen. Daraufhin wurde kritisiert, es handle sich lediglich um eine Art Therapie-Produkt. Die verschiedenen Persönlichkeiten seien den Betroffenen "eingeredet" worden.

Mittlerweile aber hat die medizinische Forschung die vielfältigen bildgebenden Methoden entdeckt, mithilfe derer sich Störungen der Psyche und ihre Auswirkungen auf das Gehirn untersuchen lassen.
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Frühe Schmerzerlebnisse stören limbisches System
So konnten Untersuchungen beispielsweise zeigen, dass wiederholte extreme Furcht- und Schmerzerlebnisse in der Kindheit - mithin also in einer Phase, in der das Gehirn durch Erfahrungen geprägt wird - die Entwicklung des so genannten limbischen Systems stören können. Diverse Studien ergaben auch, dass bei schwer misshandelten oder sexuell missbrauchten Patienten die linke Gehirnhälfte abnormal entwickelt war. So war etwa der linke Hippocampus bei in der Kindheit missbrauchten Frauen mit einer Multiplen Persönlichkeitsstörung deutlich kleiner, als bei gesunden Kontrollpersonen.
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Multiple Identitäten mit PET sichtbar gemacht
Das niederländische Forscherteam unter der Leitung von Simone Reinders verwendete nun die Technik der Positronen-Emissions-Tomografie (PET), um das Gehirn von elf weiblichen Patienten darzustellen, welche unter einer Multiplen Persönlichkeitsstörung litten.

Die Betroffenen hörten dabei traumatische autobiografische Erzählungen - und zwar in beiden ihrer jeweils zwei Persönlichkeitszustände: Hatte Persönlichkeit Nr. 1 die Kontrolle, so erkannten die Patientinnen jenes erzählte Trauma als ihr eigenes. Dies aktivierte bestimmte emotionale Zentren im Gehirn.

Persönlichkeit Nr. 2 dagegen erkannte die Geschichte nicht bewusst als autobiografisch - das Zuhören löste Aktivitäten in einem größeren Netzwerk des Gehirns aus - inklusive Regionen, die mit dem Ichbewusstsein in Zusammenhang stehen.
Traumatische Information aktiv unterdrückt
Diese Gehirnareale aber sollten bei Menschen nicht aktiv werden, die eine einzige Persönlichkeit besitzen - und die Geschichten hören, die nicht von ihnen selbst handeln.

"Das Gehirn muss die traumatische Information aktiv unterdrücken", erläutert Forschungsleiterin Reinders die Ergebnisse ihres Teams. Sie glaubt, dass jene zusätzlichen Gehirnregionen die autobiografischen Erinnerungen "ersticken" und aus der Vergangenheit jener Persönlichkeit löschen.
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Studie: "Verdrängung" neurobiologisch bewiesen
Nach der Theorie Sigmund Freuds können unliebsame Gedanken verdrängt werden - ein alltäglicher Vorgang, der im ungünstigsten Fall aber psychische Störungen verursachen kann. Was von Gegnern der Psychoanalyse seit ihrer Entstehung heftig bestritten wird, bekam erst vor kurzem Schützenhilfe aus der Neurobiologie. US-Forscher haben den ersten neurobiologischen Beweis vorgelegt, wie der Mechanismus funktioniert - zumindest bei "absichtlichem" Vergessen. Mit Hilfe bildgebender Verfahren fanden sie heraus, dass dabei die gleichen Hirnregionen beteiligt sind, die auch beim Abbruch von Körperbewegungen aktiviert sind.
->   Mehr dazu (Artikel vom 9. Dezember 2003)
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Verschiedene Identitäten, verschiedene Fähigkeiten
Die niederländischen Forscher hoffen nun, dass ihre Studie - gemeinsam mit weiteren Untersuchungen zu diesem Thema - zur Aufklärung über die Störung beiträgt. Demnach sind die Veränderungen im Gehirn durch verschiedene Persönlichkeiten weit größer, als etwa bei einem schlichtem Wechsel von guter zu schlechter Laune zu beobachten ist.

"Unsere Ergebnisse machen die Existenz von verschiedenen regionalen Blutfluss-Mustern im Gehirn für verschiedene Selbstwahrnehmungen deutlich", schreiben die Wissenschaftler in "NeuroImage".

Weniger optimistisch gibt sich allerdings der Psychiater James Chu von der Harvard Medical School in Boston: Die Studie werde hauptsächlich diejenigen überzeugen, die bereits überzeugt seien.
->   Faculty of Medical Sciences Rijksuniversiteit Groningen
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->   Körperlicher und seelischer Schmerz: Verarbeitung ähnlich (10.10.03)
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01.01.2010