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ORF ON Science :  News :  Leben 
 
Tragen Arten eine Zeitbombe in ihrem Erbgut?  
  Von den unzähligen Arten, die jemals unsere Erde bevölkerten, sind mehr als 99 Prozent ausgestorben. Entgegen der klassischen Annahme, dass Massensterben und Konkurrenzeffekte im Laufe der Erdgeschichte zum Verschwinden der meisten Spezies geführt haben, wartet ein österreichischer Krebsforscher mit einer spektakulären Hypothese auf. Er meint, dass dem Erbgut aller höheren Lebewesen gewissermaßen ein Ablaufdatum eingeprägt ist. Demzufolge hat jede Art nur eine begrenzte Zahl von Generationen zur Verfügung. Ist diese Grenze überschritten, schlittern die Lebewesen in eine genetische Krise, die zum Aussterben führen kann.  
Reinhard Stindl vom Institut für Medizinische Biologie der MedUni Wien beruft sich auf die bekannte Tatsache, dass Körperzellen nur eine begrenzte Zahl von Teilungen durchlaufen können. Seiner Ansicht nach kommt der dafür verantwortliche Mechanismus auch in Keimzellen - und damit in der Abfolge von Generationen - zum Tragen.
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Der Artikel "Is telomere erosion a mechanism of species extinction?" von Reinhard Stindl erschien im Fachmagazin "Journal of Experimental Zoology Part B: Molecular and Developmental Evolution 302B, S.111-20).
->   Zum Original-Abstract
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Leben heißt Sterben
Die Erkenntnis, dass Leben im geologischen Zeitmaßstab auch und vor allem Sterben bedeutet, gehört zum täglichen Brot der Paläontologen.

Aktuellen Schätzungen zufolge sind von den jemals existierenden Arten mehr als 99,9 Prozent ausgestorben. So betrachtet bilden die rezenten Tiere und Pflanzen Endpunkte eines gewaltigen naturgeschichtlichen Leichenzuges.
->   Aussterben bei Wikipedia
Aussterben durch Katastrophen und Konkurrenz
Individuen sind sterblich, das ist klar - aber warum können Arten nicht ewig existieren? Klassischerweise argumentiert man in diesem Fall mit den Massensterben, die sich im Lauf der Erdgeschichte ereignet haben.

Etwa jene bekannten, die am Ende des Perm und der Kreidezeit aufgetreten sind. Nach Berechnungen von Paläontologen gehen allerdings nur vier Prozent der evolutionären "Todesfälle" auf das Konto dieser globalen Katastrophen. Der Rest ist also auf umwelt- oder konkurrenzbedingte Dynamiken zurückzuführen.
->   BBC: The Extinction Files
Chromosomen: Erosion der Schutzkappen
Für Reinhard Stindl gibt es noch eine alternative Deutungsmöglichkeit. Er verweist in seiner Arbeit auf die allgemein bekannte Tatsache, dass Körperzellen nur eine begrenzte Zahl an Teilungen vollziehen können.

Das liegt daran, dass die Telomere - d.h. die "Schutzkappen" der Chromosomen - bei jeder DNA-Verdopplung um ein Stück kürzer werden. Ab einem gewissen Punkt führt das entweder zum Zellteilungsstop oder zur genetischen Destabilisierung der Zellen.

Es gibt sehr gute Hinweise, dass etwa altersassoziierte Erkrankungen wie Immunschwäche und Krebs mit diesem Phänomen in Zusammenhang stehen.
->   Telomere bei Wikipedia
Auch Keimzellen verlieren Schutzmoleküle
Ein Befund bewog Stindl, dieses - als "mitotic clock" bekannte - Limit an Zellteilungen auch auf die Stammesgeschichte zu übertragen:

An Ratten, Rindern und einigen Pflanzen konnte nämlich gezeigt werden, dass ausgereifte Keimzellen (d.h. Spermien und Eizellen) eine stark verminderte Aktivität jenes Enzyms zeigen, das für die Stabilisierung der Telomerlänge sorgt.

Das ist deswegen für die Evolutionsbiologie von Belang, weil die Keimzellen im Gegensatz zu den Körperzellen an die Nachfahren weitergegeben werden. Somit wäre ein Telomerverlust von einer zur nächsten Generation denkbar.
->   Mehr zur "mitotic clock" (ETH Zürich; pdf-File)
"Species clock": Die genetische Zeitbombe
Wäre das bei allen Spezies der Fall, dann sollte sich die angesprochene genetische Destabilisierung nach einer kritischen Zahl an Generationen automatisch einstellen.

Mit anderen Worten, Spezies hätten nach dieser Deutung eine Art genetisches Ablaufdatum einprogrammiert - Stindl spricht in diesem Zusammenhang von der "species clock".
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120.000 Jahre bis zum Showdown
Rechnet man die kleinen Telomer-Stückchen, die pro Generation verloren gehen, auf die jeweilige Generationenlänge einer Spezies hoch, dann ergeben sich folgende hypothetische Werte: Einem kurzlebigen Tier wie der Maus stünden demzufolge rund 2.500 Jahre bis zum genetischen Crash zur Verfügung, beim Menschen wären es immerhin 120.000 Jahre.
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Inzucht: Jungbrunnen für die Zellen?
An diesem Punkt können nach Stindls Ansicht Arten in ein genetisches Desaster schlittern und tatsächlich aussterben. Sie müssen aber nicht:

Es gibt nämlich Hinweise, dass es in gewissen Situationen zu einer schubweisen Umkehrung dieses Trends kommt - und sich Arten so eine molekulare Galgenfrist ausbedingen.

An Labormäusen wurde nämlich festgestellt, dass starke Inzucht mit einer drastischen Verlängerung der Telomere einhergeht. Sie besitzen etwa zehnmal längere Schutzkappen auf ihren Chromosomen als deren Verwandte in der freien Wildbahn.

Stindl vermutet, dass solche Vorgänge zu einer Neuformung der genetischen Architektur führen.
Artbildung ebenfalls mit Inzucht assoziert
Die daraus hervorgegangenen isolierten Gruppen könnten, falls sich chromosomale Veränderungen etabliert haben, eine neue Spezies "gründen".

Die "species clock"-Hypothese könnte somit erklären, warum zum einen Arten regelmäßig aussterben und zum anderen neue entstehen, so Stindl in seiner Arbeit.

Freilich mangelt es seiner Interpretation noch an einem stichhaltigen Nachweis im Experiment: Wie diese Telomerverlängerung bei Inzucht-Populationen von statten gehen soll, liegt völlig im Dunkeln.
Hypothese als Forschungsanregung
Für den Wiener Krebsforscher ist das aber keineswegs ein Mangel: "Schließlich handelt es sich dabei noch um eine reine Hypothese, die auch andere Forscher zur Überprüfung anregen soll", so Stindl im Gespräch mit science.ORF.at.

Diese könnte etwa darin bestehen, dass man die Telomerlängen von bedrohten Arten mit jenen von "erfolgreicheren" Spezies vergleicht.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Website von Reinhard Stindl (MedUni Wien)
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01.01.2010