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Perlen und echter Abfall im "genetischen Müll"  
  Regionen im Erbgut, denen man keine Funktion zuordnen kann, werden mitunter etwas despektierlich als "Junk-DNA" bezeichnet. Einer neuen Studie zufolge offenbar zurecht: Ein US-amerikanischer Genetiker hat Mäusen große Abschnitte solch genetischen Mülls aus dem Erbgut entfernt. Die Wirkung war gleich null. Die Nager unterschieden sich in keinerlei Hinsicht von ihren normalen Artgenossen. Überraschend an diesem Experiment ist, dass es sich dabei um so genannte konservierte Regionen handelte - eine Eigenschaft, die man bisher als Hinweis auf eine biologische Funktion gewertet hat.  
Zu einem gegenteiligen Ergebnis kommt indes ein anderes Team von US-Forschern: Sie entdeckten im genetischen Müll eine wahre Perle: Eine Region, die auf bisher völlig unbekannte Weise in die Regulation anderer Gene eingreift.
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Der Artikel "Life goes on without 'vital' DNA" von Sylvia Pagan Westphal im Wissenschaftsmagazin "New Scientist" (Ausgabe vom 5.6.04, S.18) beschäftigt sich mit den Versuchen an konservierter Junk-DNA.
->   Zur Online-Version des Artikels
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"Junk-DNA" - unscharfer Begriff
Der Ausdruck "Junk-DNA" ist kein exakter Fachbegriff, sondern wird von Forschern eher locker gebraucht. Üblicherweise fasst man damit all jene Bereiche im Erbgut zusammen, denen (noch) keine Funktion zugeordnet werden kann.

Mit anderen Worten: Der Begriff ist auch eine Etikette für vorläufiges Unwissen. Auffallend ist jedenfalls, dass diese Regionen anteilsmäßig stark in der Mehrzahl sind.

Etwa zwei bis drei Prozent aller Sequenzen im menschlichen Erbgut sind klassische Gene, die Erbinformationen für Proteine speichern. Hinzukommen noch jene (so genannten nicht-kodierenden) Abschnitte, die auf vielerlei Arten in die Aktivität von anderen Genen eingreifen.
Mäusen stattliche DNA-Sequenzen eliminiert
Der Rest ist genetische terra incognita. Ob das mit Müll gleichzusetzen ist, darüber scheiden sich die Geister. Edward Rubin vom Lawrence Berkley National Laboratory hat nun die Probe aufs Exempel gemacht:

Er eliminierte aus dem Erbgut von Mäusen zwei Sequenzen mit der stattlichen Länge von 800.000 bzw. 1,6 Millionen Basenpaaren, die man bisher mit dem Label "Junk-DNA" versehen hatte. Zum Vergleich: Das gesamte Erbgut der Maus besteht aus rund 2,5 Milliarden chemischen Bausteinen.
->   Maus-Genom nahezu komplett entziffert (4.12.02)
Nager mit Löchern im Erbgut kreuzfidel
Den daraus entstandenen Tieren schien das nichts auszumachen: Die Nager mit den großflächigen Löschungen im Erbgut unterschieden sich nicht von ihren normalen Artgenossen - sei es in Sachen Wachstum, Entwicklung oder deren Lebensspanne.

Was die Forschergemeinde darob in Aufregung versetzt, ist die Tatsache, dass es sich bei den eliminierten Regionen um so genannte konservierte Sequenzen handelt.
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Warum Konservierung eine Funktion nahelegt
Konservierte Sequenzen kommen in ganz ähnlichen Versionen bei verschiedenen Arten vor - normalerweise ein untrügliches Zeichen dafür, dass es einen Grund für ihre Existenz gibt. Die Argumentation lautet kurz gefasst folgendermaßen: Wenn Genregionen im Lauf der Evolution kaum Mutationen angehäuft haben, dann muss dem die Selektion entgegengewirkt haben. Und wenn das der Fall ist, dann müssen die betreffenden Regionen eine - wenn auch bislang unbekannte - biologische Funktion ausüben.
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Drei Interpretationen möglich
Rubins Experiment legt nun nahe, dass konservierte Abschnitte im Erbgut auch bedeutungslos sein können. Interpretieren lässt sich das Ergebnis allerdings auf dreierlei Arten:

Entweder handelt es sich bei diesen Abschnitten im Erbgut tatsächlich um genetischen Schrott - eine Ansicht die etwa Rubin selbst vertritt. Oder sie besitzen doch eine Funktion, allerdings eine so subtile, dass ihr Verschwinden auf körperlicher Ebene keine sichtbaren Auswirkungen zeitigt.
Sicherungskopien im Erbgut?
Eine dritte Interpretation schlägt Kelly Frazer von Perlegen Sciences in Kalifornien vor: Da solche konservierten Regionen ähnlichen Typs auf vielen verschiedenen Chromosomen vorkommen, könnte es sein, dass der Verlust einfach von anderen Sequenzen ausgeglichen wurde.

In diesem Fall hätte man es also mit genetischen Informationen zu tun, von denen es gewissermaßen Sicherungskopien an anderen Orten im Genom gibt.
Vermeintlicher "Junk" bei der Hefe
Joseph Martens und Mitarbeitern von der Harvard Medical School gelang indes an der Bäckerhefe eine gegenteilige Entdeckung. Sie führten Experimente mit einer Sequenz namens SRG-1 durch, die in der lebenden Zelle durch Enzyme in die "kleine Schwester der DNA", die RNA, überschrieben wird.

Allerdings konnte man diesem Vorgang keinen biologischen Sinn zuordnen, da diese RNA völlig untätig zu sein schien. Bislang wurden solche Vorgänge als "Rauschen" in der Biochemie der Gene - ein Verlust von enzymatischer Kontrolle ohne weitere Bedeutung - interpretiert.

Wie Martens in einer Aussendung betont, war zunächst auch hier die Etikette "Junk" schnell bei der Hand.
->   Mehr zur RNA bei Wikipedia
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Der Artikel "Intergenic transcription is required to repress the Saccharomyces cerevisiae SER3 gene" von Joseph A. Martens et al. erschien im Fachmagazin Nature (Band 429, S. 571-4, Ausgabe vom 3.6.04; doi:10.1038/nature02538).
->   Zum Original-Abstract
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Mülltrennung erforderlich
Die Versuche des US-amerikanischen Forschers zeigten jedoch, dass die RNA direkt in die Aktivität eines benachbarten Gens eingreift. Martens spekuliert, dass diese völlig neuartige Form genetischer Regulation durchaus verbreitet sein könnte.

Dies sei, so Martens, eine wichtige Botschaft für die Forscher die aus den Daten des Humangenom-Projekts schon weitreichende Schlüsse ziehen. Die Vorgänge der Genregulation seien offensichtlich komplizierter, als man bisher angenommen habe.

In Sachen "Junk-DNA" ist die Botschaft ebenfalls klar: Müll ist in der Genetik offenbar nicht gleich Müll. Und: Die Trennung von vermeintlich und wirklich sinnlosen Sequenzen wird noch eine Menge Arbeit erfordern.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Website von Edward Rubin
->   Harvard Medical School
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Genetischer Müll durch kleine Populationsgrößen? (20.11.03)
->   Verhaltensgenetik: Juwelen im "biologischen Abfall" (10.12.02)
->   Mehr zur Entzifferung des Erbguts im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010