News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 
Zum zehnten Todestag von Erwin Ringel  
  Vor zehn Jahren starb der Wiener Psychiater und Individualpsychologe Erwin Ringel. Er beschäftigte sich intensiv mit Selbstmördern, stellte das "präsuizidale Syndrom" auf - und galt als der Analytiker der "Österreichischen Seele". Ringel erlag am 28. Juli 1994 im Alter von 73 Jahren einem Herzversagen.  
Geboren in Temesvar, in Opposition zu Hitler
Geboren wurde Ringel am 27. April 1921 in Temesvar im heutigen Rumänien. Mittelschule und Matura absolvierte er in Wien, wo er sich auch in der katholischen Jugendbewegung engagierte.

Dem Hitler-Regime begegnete er mit Opposition, 1939 wurde er vorübergehend von der Gestapo festgenommen. Zum Heer eingezogen, kam er vorerst zur Sanitätstruppe. 1943 erwirkte er mit Hilfe zweier Ärzte, die im Widerstand tätig waren, seine Entlassung wegen "Schilddrüsenüberfunktion".
"Weg mit Zwangsjacken und Gittern"
1946 promovierte Ringel in Medizin und begann seine Tätigkeit an der Universitätsklinik in Wien. Chef Hans Hoff brachte aus den USA eine damals neue Psychiatrie nach Österreich. "Weg mit den Zwangsjacken, weg mit den Gittern", so Ringel, der in dieser Zeit seine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie und Neurologie in Wien absolvierte.
Beschäftigung mit Selbstmordkandidaten
Der Mediziner beschäftigte sich intensiv mit dem Thema Suizidgefährdung. "Ich liebe das Leben. Für mich gab es als Katholik eine unerhörte Diskrepanz. Selbstmörder waren für mich die ärmsten Menschen. Und dazu wurden sie auch noch durch die Kirche verfolgt, durch die Verweigerung des Begräbnisses."
"Präsuizidales Syndrom"
Ringel fielen im Jahr 1948 Gemeinsamkeiten unter 745 Selbstmordkandidaten auf, woraufhin er das "präsuizidale Syndrom" formulierte. Dieses brachte er auch allgemein verständlich formuliert den Menschen näher.

So gelten etwa "gefühlsmäßige Einengung, das stark reduzierte Selbstwertgefühl oder das Gefühl des Getrieben-Werdens" als typisch für potenzielle Selbstmörder.
...
Zitat Erwin Ringel zu Selbstmördern
"90 Prozent aller Selbstmörder - diese Untersuchung ist weltweit bestätigt - senden jedoch vor der Tat Signale aus. Sie sprechen direkt oder indirekt über Selbstmord. Machen auf ihre verzweifelte Lage, ihre kranke Psyche aufmerksam. Kündigen ihre geplante Verzweiflungstat sogar an. (...) Wären wir in der Lage, unseren verzweifelten Mitmenschen Zeit, Aufmerksamkeit und ehrliche Anteilnahme zu widmen, ernsthafte Gespräche zu führen, dann könnten viele Selbstmorde verhindert werden."
...
Aufbau des Wiener Kriseninterventionszentrums
Der Wiener Psychiater hat es nicht bei der Theorie bewenden lassen: 1948 begann er mit dem Aufbau des Wiener Kriseninterventionszentrums. Es sollte eine Tag und Nacht funktionierende Betreuungsstelle für Gefährdete werden.
Arbeiten zur Psychosomatik
Ringel war Individualpsychologe. Sein Credo lautete: "Die Psychiatrie darf nicht einseitig sein." Die Erkenntnisse über die körperlich-kranken und krankmachenden Abläufe im Gehirn und die Psychotherapie gehören seiner Meinung nach gleichermaßen in der Psychiatrie berücksichtigt.

Neben der Selbstmordverhütung hat sich der Wiener auch der Psychosomatik verschrieben. Er baute an der Klinik eine eigene Abteilung dafür auf und machte mit der Studie "Der fehlgeleitete Patient" Furore.

Er wies nach, dass Patienten mit psychosomatischen Störungen - gut 50 Prozent aller Kranken - in Österreich oft jahrelang von einem Facharzt zum nächsten laufen, bis sie an einen entsprechend ausgebildeten Psychosomatiker kommen.
"Behandlung" von Individuum und Gesellschaft
Seine Versuche, Einfluss auf die Politik zu nehmen, erklärte der Psychiater unter Hinweis auf sein großes Vorbild Alfred Adler. Nach dessen Worten genüge es nicht, nur den einen kranken Menschen zu behandeln, denn manchmal sei auch die Gesellschaft krank.

Deshalb müsse man mit den Politikern in Verbindung treten, um neurotisierende Faktoren zu beseitigen. "Und wenn man die Wahrheit sagt, ist es eben unvermeidlich, provokant zu werden", stellte Ringel fest. Verwirklicht hat er diesen Ansatz in jenem Buch, das ihn auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte, der "Österreichischen Seele".
...
Publikationen
Ringel publizierte über 200 wissenschaftliche Arbeiten zu Themen wie Selbstmordverhütung, Psychosomatik, Neurosenlehre und Sozialpsychologie (so z.B. "Selbstmord-Abschluss einer krankhaften psychischen Entwicklung", 1953, "Selbstmordverhütung", 1970, "Selbstschädigung durch Neurose", 1973), aber auch zu Grenzgebieten zwischen Psychologie, Kunst und Religion ("Religionsverlust durch religiöse Erziehung", 1986). Seine Publikation "Die österreichische Seele" erreichte Bestseller-Verkaufszahlen.
...
Die österreichische Seele
Mit diesem Werk aus dem Jahr 1984 hatte Ringel immer wieder für teilweise sehr heftige Diskussionen gesorgt. In der Alpenrepublik seien durch die starken hierarchischen Strukturen mehr Leute neurotisiert als anderswo, so die Aussage des Mediziners.
Opfer und Täter: Doppelrolle im Nazi-Regeime
Eine weitere Ursache für die Schäden an der österreichischen Seele liege in der Doppelrolle des Staates als Opfer und Täter im Nazi-Regime zwischen 1938 und 1945. "Diese Auseinandersetzung ist noch nicht bis zu Ende diskutiert", sagte Ringel noch ein Jahr vor seinem Tod.

"Ich würde mir wünschen, dass die ehemaligen Soldaten vor sich selbst hintreten und sagen: Ich habe damals Befehle befolgt, denen ich nicht gehorchen hätte dürfen."
Das "sowohl-als auch"
"Der Österreicher macht aus jedem "entweder-oder" ein "sowohl-als auch" und feiert dabei Kompromisse als Erfolge," so Ringel einmal. Dieses Symptom könne man in jedem Bereich beobachten, im politischen, sozialen und religiösen.
...
Programmhinweis
Das Journal-Panorama in Ö1 widmet sich am Mittwoch den 28. Juli 2004 um 18:25 dem Analytiker der "Österreichischen Seele".
->   Mehr dazu auf oe1.ORF.at
...
->   Erwin Ringel: Die Zeit, die uns bleibt (ORF Vorarlberg)
->   Audiofile: Die psychische Verfassung des Österreichers (Österr. Mediathek)
->   Erwin Ringel bei Wikipedia
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft .  Medizin und Gesundheit 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010