News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 
Waten im Wasser führte zum aufrechten Gang  
  So viel ist sicher: Vor einigen Millionen Jahren haben sich unsere Vorfahren im Laufe eines evolutionären Prozesses aufgerichtet. Warum wir uns aber von vier auf zwei Beine gestellt haben, ist hingegen heftig umstritten. Mit seinem "amphibischen Affen" wirft Carsten Niemitz, Humanbiologe von der Freien Universität Berlin, eine neue These ins paläoanthropologische Rätselraten.  
"Das Geheimnis des aufrechten Gangs" - so der Titel seines neuen Buches: Wir sind nicht von den Bäumen herabgeklettert, sondern vielmehr dem - flachen - Wasser entstiegen.
Die bisherigen Argumente
Bild: Verlag C.H. Beck
Wer sich aufrichtet, befreit die Hände, kann Nahrung transportieren, sich nach hoch hängenden Früchten strecken, sich sexuellem Imponiergehabe hingeben oder seine Körpertemperatur besser regulieren - aufrecht schwitzt man weniger. Dies sind nur einige der zahlreichen bisher vorgebrachten Theorien - Niemitz findet keine überzeugend.

Erkenntnisse aus der funktionellen Anatomie stellten die These von der Eroberung der Savanne durch den aufrechten Gang nachhaltig in Frage. Es gibt auch terrestrische, also bodenlebende Schimpansen, die sehr gut auf allen Vieren zurecht kommen und auch recht schnell "galoppieren" können. Auch seien Affen entgegen einem weit verbreiteten Glauben keineswegs wasserscheu.
...
Carsten Niemitz: Das Geheimnis des aufrechten Gangs. Unsere Evolution verlief anders. München 2004 (Beck). 256 S., Euro 23,60
->   Mehr über das Buch (Beck-Verlag)
...
Proteinreiche Kost an seichten Uferzonen
Niemitz zählt Dutzende von Arten auf, die ihr Nahrungsangebot durch Krabben oder Wasserpflanzen komplettieren. Die Kost ist sehr proteinreich und anders als auf dem Land das ganze Jahr über zu haben.

Das könnte unsere vierfüßigen Vorfahren in seichte Uferzonen gelockt und dort zu bipedem Gang animiert haben - zumal man mit dem Wasser als "Stütze" nicht so leicht umfällt.
Argument Babyfett
So weit, so zumindest bedenkenswert. Niemitz verspürt aber das Bedürfnis, seine ungewöhnliche These mit weiteren Argumenten stark zu machen. Er verweist auf das Babyfett, das im kühlen Nass dem Auftrieb und als Wärmepolster gegen Abkühlung dient, wenn Mutter mit dem Kleinen fischen geht. Neugeborenen Menschenaffen, die eher wie ausgemergelte Greise aussehen, fehlt diese Energiereserve.
Drang zur Pfütze: Von der Urgeschichte ...
Passenderweise finden sich fast alle Fundorte von hominiden Fossilien ebenso wie frühe menschliche Siedlungen an früheren Wasserläufen oder Seen. Niemitz' Belegwut für unseren Drang zur Pfütze macht aber auch vor der Gegenwart nicht Halt. Quasi als Freizeitsoziologe (im doppelten Sinn) hat er an Berliner Seen heimlich badende Menschen beobachten lassen.
... bis heute
Während Erwachsene nur ein Zehntel der Zeit im Wasser verbringen, sind es bei Kindern fast vierzig Prozent, fast ausschließlich planschend. Und warum kreischen die Kleinen aus Herzenslust?

In Afrika haben wir damit einst Krokodile vertrieben. Aus eben dem Grund bevorzugen wir auch klares statt trübes Wasser. Nicht weil es gesünder ist, sondern weil wir die herantauchenden Angreifer früher erkennen konnten.
Trittsicherer: Lange weibliche Beine
Auch die männliche Vorliebe für lange weibliche Beine findet ihre Erklärung - denn diese machen im Wasser trittsicherer und gewähren eine bessere Übersicht, sind also ein Selektionsvorteil. Und warum sind Grundstücke am See oder am Meer am gefragtesten und damit am teuersten? Richtig!
Primatologe, bleib bei Deinen Affen!
An der Existenz von Genen für unsere Wasseraffinität kann für Niemitz jedenfalls kein Zweifel bestehen. Beleg wird an Beleg gereiht, alles passt zusammen und überzeugt aufgrund der Beliebigkeit gerade nicht. Niemitz vermischt starke Argumente mit Spekulationen und - pardon - verwässert dadurch seine eigene These. Primatologe, bleib bei Deinen Affen!
Wasserliebe: Gene statt Geschichte
Dass der Run auf Sandstrand und Seeufer im Urlaub nicht-genetische Ursachen haben könnte, kommt Niemitz nicht in den Sinn, als Evolutionsbiologe sieht er in der Liebe zum Wasser eine geschichtslose Konstante. Diese naturwissenschaftliche Blindheit gegenüber kulturellen Phänomenen resultiert aus der starken Fixierung auf den amphibischen Affen.
Ideale Strand- oder Freibadlektüre
Den deutschen Professor in sich kann Niemitz nicht ganz leugnen: An manchen Stellen wird er etwas pedantisch und seine humoristischen Anwandlungen sind auch nicht gerade zwerchfellerschütternd. Unfreiwillig komisch wirken hingegen seine statistischen Erhebungen, wie häufig auf Hotelprospekten (auch in Wintersportgebieten!) mit Swimming Pool und Sauna geworben wird.

Gleichwohl: in dieser Mischung aus interessanter Provokation und überzogener These ist "Das Geheimnis des aufrechten Gangs" als Strand- oder Freibadlektüre nicht ungeeignet, zumal sie sich mit eigenen Beobachtungen vor Ort ideal ergänzen lässt.

Oliver Hochadel, heureka
...
Oliver Hochadel ist Redakteur von "heureka", der Wissenschaftsbeilage des "Falter".
->   "heureka"
...
->   Institut für Biologie, FU Berlin
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Zufallsfund ändert Theorie des aufrechten Ganges (5.6.03)
->   Älteste menschliche Fußabdrücke gefunden (13.3.03)
->   Homo Erectus: Weltweiter Urahne des Menschen (21.3.02)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010