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Experten-Empfehlung zum Umgang mit Cannabis  
  Die Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP) hat ein Expertenstatement zum Umgang mit der Droge Cannabis verfasst. Die Fachleute sprechen sich gegen eine generelle Freigabe aus, verteufeln Cannabis mit seinem Inhaltsstoff THC aber nicht.  
Eine uralte Droge: Cannabis. Bei seit Jahrzehnten steigendem Konsum in den westlichen Industriestaaten gibt es immer wieder öffentliche Diskussionen über Gefährlichkeit bzw. Unbedenklichkeit des Konsums dieser auch in Österreich illegalen Droge.

Die ÖGPP hat dazu jetzt ein Expertenstatement verfasst. Die Fachleute sprechen sich darin gegen eine generelle Freigabe aus, verteufeln die Droge aber nicht. Dosis, Anwendung und psychische Konstellation des Einzelnen dürften für Gefahren primär verantwortlich sein.
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Seit den 1960er Jahren weltweite Verbreitung
"Cannabis, dessen medizinische Anwendung im Jahr 2.737 v. Chr. in China erstmals beschrieben wurde, hat seit den sechziger Jahren weltweite Verbreitung erfahren und ist heute in vielen Industrieländern die am weitesten verbreitete illegale Droge. Zubereitung und Gebrauch des Cannabis haben sich in den letzten Jahren in den meisten Ländern stark verändert. So ist in den USA von einer 'neuen Marihuana-Epidemie' die Rede (...). Nach der amerikanischen Jugendumfrage 'Monitoring the Future' hat sich der Cannabisgebrauch unter den 14- bis 16-Jährigen von 1992 bis 1997 verdoppelt, bis 2001 haben sich die Prävalenzzahlen auf einem konstant hohen Niveau eingependelt", schreiben die Experten.
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Europa: Anstieg bei "Lebenszeitprävalenzen"
Die europäischen Länder verzeichneten in den vergangenen zehn Jahren einen so deutlichen Anstieg in den so genannten Lebenszeitprävalenzen (Gebrauch in der bisherigen Lebenszeit, Anm.) des Cannabisgebrauchs, dass manche Autoren von einem "Quantensprung" sprechen.

Von den 21 Ländern, die am Europäischen Schulsurvey-Projekt über Alkohol und andere Drogen (ESPAD) von 1995 bis 1999 durchgängig teilnahmen, war bei 14 ein Anstieg der Lebenszeitprävalenzen des Cannabiskonsums zu konstatieren, während nur in drei Ländern eine Abnahme zu verzeichnen ist.

Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) in Lissabon berichtet, dass jeder fünfte Europäer im Alter zwischen 15 und 64 Jahren - das sind 50 Millionen Menschen - Cannabis wenigstens einmal probiert hat.
Österreich: Starke Verbreitung von "Cannabiserfahrung"
Experten gehen in Deutschland bei 18- bis 59-Jährigen von einer Lebenszeitprävalenz für Cannabiserfahrung von 21,4 Prozent aus, was mit österreichischen Schätzungen übereinstimmt.

Eine in Österreich im Jahr 2000 durchgeführte Studie des Ludwig Boltzmann-Instituts an 200 14- bis 24-Jährigen verschiedener jugendlicher Teilkulturen ergab eine starke Verbreitung von Cannabiserfahrung nicht nur bei Ravern und Funsportlern, sondern auch bei jenen, die in früheren Untersuchungen traditionell eher nur geringe Tendenzen erkennen ließ, mit illegalen Drogen zu experimentieren.
THC-Gehalt der Hanfpflanzen angestiegen
Nach Angaben der ÖGPP-Fachleute kommt zur weiten Verbreitung des Cannabis hinzu, dass der THC-Gehalt - das Kürzel steht für Tetrahydrocannabinol - der Hanfpflanzen durch ausgeklügelte Kultivation in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen ist.

In den sechziger und siebziger Jahren enthielt ein Joint durchschnittlich zehn Milligramm, heute sind es 150 bis 200 Milligramm.
Experten plädieren für sachliche Diskussion
Die zunehmende Verbreitung des Cannabiskonsums in unserer Gesellschaft muss jedenfalls dazu führen, dass sich diese auch mit den Konsequenzen auseinander setzt, meinen die Fachleute.

"Anzustreben ist eine Versachlichung der Meinungsbildung, welche einerseits eine wissenschaftsgestützte, nicht ideologisierte Diskussion über günstige und ungünstige Effekte des Cannabis und andererseits eine möglichst hilfreiche, gesetzliche Handhabung zulässt", heißt es in dem Expertenstatement.

"Die Debatte über die Prohibitions- bzw Liberalisierungs- und Legalisierungspolitik darf nicht jene über die gesundheitlichen Auswirkungen des Cannabisgebrauchs oder jene über die möglichen therapeutischen Effekte von Cannabinoiden überschatten oder gar behindern."
Gesundheitsrisiken durch intensiven Gebrauch
Wichtige Punkte, die laut Statement zu Auswirkungen des Gebrauchs und zu einem möglichen therapeutischen Effekt zu berücksichtigen wären:

Die wichtigsten Gesundheitsrisiken des Cannabisgebrauchs sind - mit Ausnahme der üblichen Risiken einer Berauschung durch psychotrope Substanzen - Folge eines regelmäßigen, intensiven (d.h., täglichen oder fast täglichen) Cannabisgebrauchs.

Der gelegentliche Cannabisgebrauch kann allerdings Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen beeinflussen. Zur Zeit gibt es keine Hinweise für tödliche Intoxikationen.
Erhöhtes Risiko für Ängstlichkeit, psychotische Symptome ...
Wissenschaftlich belegt sei das erhöhte Risiko des Auftretens folgender negativer Auswirkungen:

- Ängstlichkeit und Panik, vor allem bei unerfahrenen Benützern.
- Verschlechterte Aufmerksamkeit, Erinnerungsvermögen und psychomotorische Leistungsfähigkeit während der Wirkung.
- Möglicherweise ein erhöhtes Unfallrisiko, wenn eine Person, ein Fahrzeug lenkt, während sie mit Cannabis berauscht ist - vor allem, wenn Cannabis gleichzeitig mit Alkohol konsumiert wird.
- Erhöhtes Risiko psychotischer Symptome bei jenen, die auf Grund ihrer persönlichen oder familiären Krankheitsgeschichte "vulnerabel" sind.
- Hinzu kämen eventuell Lungenerkrankungen (Rauchen) und "ein psychiatrisches Cannabisabhängigkeitssyndrom, das charakterisiert wird durch die Unfähigkeit, sich des Cannabisgebrauchs zu enthalten oder ihn zu kontrollieren" (psychische Abhängigkeit, Anm.)
Für eine Prüfung als mögliches Medikament
Die ÖGPP vertritt allerdings auch die Meinung, dass Cannabiszubereitungen im Rahmen der Bedingungen der gesetzlichen Zulassungsverfahren als Medikamente geprüft werden sollten.

Wenngleich die vorliegenden Untersuchungen die Überlegenheit von Cannabinoiden in verschiedenen Imitationen gegenüber zugelassenen Präparaten nicht eindeutig belegen könnten, solle eine begleitende Behandlung von Schmerzen, Lähmungen, Brechreiz, Anorexie, Appetitlosigkeit, Glaukom und Bronchospasmen mit Cannabinoiden möglich sein. Hier sollte die Frage einer Gewöhnung nicht im Vordergrund stehen.
Gegen Kriminalisierung
Die Fachleute sprechen sich gegen eine Kriminalisierung aus: "Die ÖGPP ist der Meinung, dass justizielle Reaktionen die Situation des Drogenabhängigen nicht zusätzlich erschweren sollen und dem Prinzip 'Therapie statt Strafe' absoluter Vorrang einzuräumen ist", so das Expertenstatement.

"Gesetzestechnisch flexible Lösungen, die sowohl eine undifferenzierte Gleichstellung des Cannabis mit anderen Drogen als auch eine völlige Freigabe des gesamten Cannabishandels ausschließen, sind anzustreben. Zu denken ist etwa an eine moderate Abstufung der Strafandrohungen gegenüber Cannabiskonsumenten (...)".
Opportunitätsprinzip nach dem holländischen Modell
Die Experten schlagen konkret vor, "dass unter voller Ausnützung der Möglichkeiten des Suchtmittelgesetzes bzw. unter Neuformulierung mancher Bestimmungen bei Erstauffälligkeiten wegen des Konsums bzw. Besitzes geringer Mengen von Cannabis das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft eingestellt bzw. ein Opportunitätsprinzip nach dem holländischen Modell verwirklicht wird."

Cannabiskonsum und -handel könnten demnach "bis zu bestimmten Grenzen zudem aus dem Strafrecht herausgenommen und als Ordnungswidrigkeiten, die nach Verwaltungsermessen durch Verwarnungs- oder (bedingte) Geldstrafen zu ahnden wären, abgestuft werden."

"Durch solche Lösungen ließe sich einerseits das Signal, das mit einer generellen Drogenfreigabe verbunden wäre, ebenso vermeiden wie die Gefahr von Übermaßreaktion mit desozialisierenden Wirkungen", so die Experten.
->   Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (ÖGPP)
->   Alles zum Stichwort Cannabis im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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01.01.2010