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Soziologen: Rettungsvorschläge für den Sozialstaat  
  Ein Gespenst geht um in Europa: Die Angst vor der Armut. Eine wachsende Massenarbeitslosigkeit, der Abbau und drohende Verlust der Arbeitslosenunterstützung, die Kürzung von Sozialleistungen, die Verlängerung der Lebensarbeitszeit sind deutliche Symptome einer grundlegenden Veränderung des Wohlfahrtstaates. Die Gesellschaft des "befriedeten Mittelmaßes" ist im Begriffe, auseinander zu brechen - so lautete der Befund, den zahlreiche Forscher und Forscherinnen beim 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München abgaben.  
Ende der Spaßgesellschaft
Die offensichtliche Reduktion des Sozialstaates fordert auch die Soziologen heraus, darauf kritisch zu reagieren - so Wolfgang Eßbach vom Soziologischen Institut der Universität Freiburg. "Schluss mit der Spaßgesellschaft, der Erlebnisgesellschaft, der Multioptionsgesellschaft!"

Gefragt ist eine neue Ernsthaftigkeit, die sich einlässt auf die Schattenseiten der vielgerühmten globalen Gesellschaft und die darüber nachdenkt, wie die Benachteiligten dieses Systems ihre Benachteiligung empfinden.
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"Gesellschaft" enthält Vorstellung von Gerechtigkeit
Heinz Bude, Professor für Soziologie in Kassel, meinte: "Die Scham der Gescheiterten, die Wut der Zurückgesetzten und die Verzweiflung der Freigesetzten führen dem Beobachter der sozialen Welt vor Augen, dass menschliche Gesellschaften immer auch moralische Gemeinschaften sind, die Vorstellungen von gerechten Verhältnissen und gelungenen Lebensweisen enthalten".
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Scheitern der "Ersten Moderne"
Diese Welt, deren Grundlagen sich in einem Auflösungsprozess befinden, wo sich Unsicherheit und Angst vor Armut ausbreiten, führt der in München lehrende Starsoziologe Ulrich Beck auf das Scheitern der "Ersten Moderne" zurück.

Mit "Erster Moderne" verbindet er die Leitidee der Vollbeschäftigung und den Sozialstaat, den er mit dem Nationalstaat verbindet. Der funktionierende Nationalstaat konnte von den heute transnational agierenden Konzernen noch nicht in dem Maße erpresst werden, wie es heute geschieht: Das Individuum war nach langen historischen Kämpfen durch den Wohlfahrtsstaat abgesichert.
Die "Zweite Moderne"
In der "Zweiten Moderne" befinden wir uns nach Beck in einer Lage, die wir gar nicht beabsichtigt haben. Wir sind diesen "globalen Interdependenzen" ausgesetzt; zahlreiche Menschen wurden aus den Sicherheiten des Wohlfahrtsstaates "freigesetzt".

Sie werden auf sich selbst zurückgeworfen, fungieren als "Ich-AG", die sich zunehmend um Pensionsvorsorge oder Krankenversicherung selbst kümmern muss. Der Einzelmensch wird somit zum Subjekt seiner eigenen Vermarktung.
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Der 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie fand von 4.-8. Oktober 2004 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München statt.
->   Der Kongress
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"Unsichtbare" Klassengesellschaft
Von dem in Dresden lehrenden Soziologen Karl-Siegbert Rehberg stammt der Hinweis, dass in der "Ersten Moderne" der Begriff der Klassengesellschaft verschleiert wurde. "Soziale Ungleichheit", ein Leben am Rande der Gesellschaft hatte das Individuum selbst zu verantworten; der soziale Außenseiter war "Aussteiger", "Konsumverweigerer" oder schlicht zu faul, um zu arbeiten.

In der nivellierten Mittelstandsgesellschaft schien die Klassengesellschaft endgültig abgeschafft zu sein; sie war - bis auf wenige Ausnahmen - "unsichtbar" geworden.
Das statistische Verschwinden der Klassengesellschaft
Rehberg spricht auch davon, dass die unsichtbare Klassengesellschaft mit statistischen Daten zu tun habe. Während man über die Zahl der Arbeitslosen genau Bescheid wisse, fehle fast jeder Einblick in die Reichtumsverhältnisse.

Bezeichnend sei es auch, dass das "Zentrum zur Erforschung transnationaler Gesellschaften der Vereinten Nationen 1993 auf Antrag der Vereinigten Staaten aufgelöst wurde. Das bedeute, dass "die Konzernriesen statistisch in einem Meer von Zwergen untergehen".
Vorschlag 1: Sicherung des Sozialstaates
Der Sozialstaat in seiner herkömmlichen Form könne in Zeiten struktureller Arbeitslosigkeit auf hohem Niveau nicht länger finanziert werden, meint Rehberg. Deshalb sollten künftig neben der Lohnarbeit auch Kapitaleinkommen einbezogen werden.

Nicht nur die Profite der transnationalen Konzerne sollten dafür verwendet werden, die Sozialausgaben zu finanzieren, sondern auch die Spitzeneinkommen gut verdienender Schichten. Solidarität sei angesichts des voraussehbaren Sozialdebakels angesagt.
Vorschlag 2: Garantiertes Grundeinkommen
Karl-Siegbert Rehberg kann sich auch ein gesichertes Grundeinkommen vorstellen, das denjenigen zukommen soll, die sonst von den sozialen Auffangnetzen nicht erfasst würden.

Diese sozial ausgeschlossenen Menschen hätten so die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen und könnten ihr Selbstwertgefühl bewahren. Das sei aber wegen "eines traditionalistischen Vorurteils, das tief in der Gesellschaft verankert sei" kaum zu erwarten.

Nikolaus Halmer, Ö1-Wissenschaft
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Globaler Marshall-Plan für eine gerechtere Welt? (1.10.04)
->   1950 bis 1980: Das Goldene Zeitalter (11.6.04)
->   Gunther Tichy: Das US-Wirtschaftsmodell passt nicht für Europa (15.4.03)
 
 
 
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01.01.2010