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Kieferknochen wirft neues Licht auf Säugetier-Evolution  
  Im Gegensatz zu Amphibien, Reptilien und Vögeln besitzen Säugetiere in ihrem Mittelohr drei kleine Knochen, die zur Schallübertragung genutzt werden. Diese gehen entwicklungsgeschichtlich auf Kieferknochen ihrer Vorfahren zurück. Australische Forscher haben nun herausgefunden, dass diese "Erfindung" im Lauf der Evolution gleich zwei Mal gemacht wurde.  
Ein Team Thomas H. Rich von der Monash University in Victoria, Australien, fand die Überreste eines Kloakentiers aus der Kreidezeit. Anatomische Merkmale von dessen Kiefer legen nahe, dass man die bisherigen Vorstellungen der Säugetier-Evolution korrigieren muss.
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Die Studie " Independent Origins of Middle Ear Bones in Monotremes and Therians" von Thomas H. Rich et al. erschien im Fachjournal "Science" (Band 307, S. 910-914, Ausgabe vom 11.2.05).
->   Science
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Produkte der Geschichte
Vielen biologischen Strukturen ist leicht anzusehen, dass einen historischen Wandlungsprozess durchlaufen haben. So weisen die Arme des Menschen eine auffallende Ähnlichkeit mit den Vorderbeinen von etwa Katzen und Hunden auf.

Aus einem einfachen Grund: Katzen, Hunde und Menschen stammen von vierbeinigen Tieren ab, wobei nur letzterer einen aufrechten Gang entwickelt und dabei seine Arme in den Dienst anderer Funktionen gestellt hat.

Doch trotz dieser Umwidmung ist die anatomische Verwandtschaft der korrespondierenden Knochen und Muskeln bei Tier und Mensch klar zu erkennen.
->   Mehr dazu unter dem Stichwort Homologie (Wikipedia)
Verborgene Verwandtschaft
Das muss jedoch nicht immer so sein. Ein berühmtes Beispiel für verborgene Verwandtschaft sind etwa Hammer und Amboss, zwei Knöchelchen unseres Mittelohres, die Teilen des Reptilienkiefers entsprechen. Das heißt, wir hören eigentlich mit Knochen, die Echsen einst zum Fressen verwendet haben und es auch heute noch tun.
->   Gehörknöchelchen bei Wikipedia
Vom Kiefer zum Gehörknochen
Wie kommt es, dass die - historisch betrachtet - selbe Struktur im Lauf der Evolution dermaßen verwandelt wurde, dass sie so unterschiedlichen Aufgaben wie Fressen und Hören dient? Darauf gibt es zwei Antworten.

Die anatomische: Aus dem ursprünglichen (so genannten primären) Kiefergelenk der Wirbeltiere entstand im Lauf der Naturgeschichte ein Doppelgelenk, das später durch ein einfacheres Modell ersetzt wurde. Die bei dieser Ersetzung "arbeitslos" gewordenen Knochen wurden dann später eben in den Dienst des Hörens gestellt.
Alle Knochen leiten Schallwellen
Daran schließt sich die funktionale Erklärung an: Fressen und Hören scheinen auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Haben sie aber doch.

Denn Knochen - und damit auch ehemalige Kieferknochen - sind immer schon ausgezeichnete Schallleiter gewesen. Auch beim Menschen, wie leicht zu überprüfen ist, indem man sich etwa eine schwingende Stimmgabel an den Kopf hält.

Angesichts dessen ist die wandlungsvolle Geschichte unserer Gehörknöchelchen zwar noch immer erstaunlich, aber zumindest plausibel.
Bilden sich komplexe Organe sich nur einmal?
Aus systematischer Sicht gilt der Bau unseres Mittelohres als typisches Merkmal von Säugetieren. Das heißt, sämtliche Säuger - inklusive Kloaken- und Beuteltiere - verwenden Hammer und Amboss zum Hören, alle anderen Tiere tun das nicht.

Daher nahm man bislang an, dass sich dieses Merkmal bei einem gemeinsamen Vorfahren der Säuger gebildet haben muss, und zwar nur einmal: Da das Mittelohr ein komplexes Organ darstellt, sahen Fachleute mehrfache, unabhängige Bildungen desselben als zu unwahrscheinlich an.
Fund aus der Kreidezeit
 
Bild: Peter Trusler

Dass diese an sich vernünftige Regel der Parsimonität auch ihre Grenzen hat, zeigt der Fund von Thomas H. Rich und seinen Mitarbeitern. Sie entdeckten nun Überreste eines
ausgestorbenen Verwandten der heutigen Kloakentiere namens Teinolophos trusleri.

Das Unterkiefer dieses rund 115 Millionen alten Skeletts ist mit speziellen Knochen verwachsen, die sich auch bei Nicht-Säugetieren finden. Das Besondere daran: Zwei dieser Knochenstrukturen entsprechen jenen, die beim Menschen das Mittelohr ausbilden (siehe Bild oben).
Zweimalige Erfindung
Daraus folgt, dass sich bei den Kloakentieren die späteren Mittelohrknochen erst dann vom Kiefer gelöst haben müssen, nachdem Teinolophos trusleri gelebt hat - was die bisherige Lehrbuchmeinung über den Haufen wirft.

Bisher war man nämlich der Ansicht, dies sei längst beim gemeinsamen Vorfahren von Kloaken-, Beutel- und Plazentatieren (zu denen auch der Mensch gehört) geschehen.

Wenn das aber nicht zutrifft, so muss die wundersame Wandlung von Kiefer-Nebenknochen zu Hammer und Amboss mindestens zweimal in der Naturgeschichte passiert sein. Dementsprechend zeigt sich Tom Rich, Erstautor der nun vorliegenden Studie, von diesem Fund überrascht: "So etwas wie das hat es bisher noch nie gegeben".
Die Naturgeschichte wiederholt sich
Für solche Parallelerfindungen der Natur hat die biologische Fachsprache auch einen speziellen Terminus reserviert: Man spricht, abgeleitet vom griechischen "plasis" für "Formung", von so genannten Homoplasien.

Wie Thomas Martin vom Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt und Zhe-Xi Luo vom Museum of Natural History in Pittsburgh in einem begleitenden Kommentar ausführen, kann man aufgrund dieses Fundes durchaus annehmen, dass es noch weitere Homoplasien in der Gruppe der Säugetiere gegeben hat. Mit anderen Worten, die Naturgeschichte wiederholt sich bisweilen, auch wenn es noch so unwahrscheinlich erscheint.

Robert Czepel, science.ORF.at, 11.2.05
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Der Artikel "Homoplasy in the Mammalian Ear" von Thomas Martin und Zhe-Xi Luo erschien im Fachjournal "Science" (Band 307, Ausgabe vom 11.2.05).
->   Science
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->   Monash University
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01.01.2010