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Mathematik beruht nicht auf Sprachvermögen  
  Nach gängiger Meinung basiert mathematisches Vermögen, wie auch andere Denkprozesse, auf den Regeln der Sprache. Britische Forscher widersprechen dem nun: Sie berichten von drei Patienten, deren sprachliche Grammatik gestört ist, die aber komplexe mathematische Aufgaben lösen können.  
Der von der Neurowissenschaftlerin Rosemary Varley (Universität Sheffield) und Kollegen in den "Proceedings of the National Academy of Science" (PNAS) publizierte Schluss: Die Verarbeitung von Mathematik und Sprache verläuft im Gehirn auf unterschiedliche Weise.
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Die Studie "Agrammatic but numerate" erscheint als Online-Vorabveröffentlichung zwischen dem 14. und 18. Februar 2005 in den PNAS (DOI: 10.1073/pnas.0407470102).
->   Der Artikel (sobald online)
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Schon lange ein Thema
Über das Verhältnis von Sprache, Denken und Bewusstsein denkt die Menschheit seit ihrem Anbeginn nach - und hat verschiedene Antworten in Religion oder Philosophie gefunden.

Bevor die Neurowissenschaftler mit ihren bildgebenden Verfahren das Deutungsmonopol in Sachen "Gehirnleistung" zu übernehmen begannen, haben Linguisten im 20. Jahrhundert ihren Beitrag zum Thema geliefert.

Bekannt sind etwa Noam Chomskys These einer "Universal-Grammatik", die jedem Menschen angeboren ist und es Kindern so leicht macht, eine Sprache zu erlernen.
Sprache formt Denken - auch Mathematik
Oder die umstrittene Sapir-Whorf-Hypothese, die in den 1950er Jahren bekannt wurde: Ihrzufolge kann die linguistische Struktur einer Sprache die Art und Weise, in der ihre Sprecher denken, bestimmen oder sie zumindest beeinflussen.

Und das gilt nicht nur zwischen verschiedenen Sprachen, sondern auch für sprachferne kognitive Leistungen wie etwa Mathematik. Wenn die Sprachfähigkeit verloren wird, sollte auch die Rechenfähigkeit verschwinden, so lautet ein Schluss.

Eine Reihe von Studien mit bildgebenden Verfahren zeigte dann auch, dass bei der Bewältigung mathematischer Aufgaben Gehirnregionen beteiligt sind, die primär für Sprachverarbeitung zuständig sind.
->   Die Sapir-Whorf-Hypothese (wikipedia)
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Beweis durch Amazonas-Bewohner
2004 kamen Forscher der Beantwortung der Frage "Determiniert die Sprache unser Denken?" wieder einen Schritt näher. Sie untersuchten die Sprache eines Eingeborenenstammes im Amazonas-Regenwald, die kein echtes numerisches System kennt. Es existieren lediglich Begriffe, die in etwa "eins", "zwei" und "viele" bedeuten. Der Schluss der Forscher: Für größere Mengen fehlt den Amazonas-Bewohnern offenbar das Bewusstsein.
->   Mehr dazu in: Ein Leben ohne Zahlen (20.8.04)
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Patienten mit Gehirnschädigungen
Die kognitive Neurowissenschaftlerin Rosemary Varley ihre Kollegen sind dem Verhältnis von Sprache und Mathematik nun anhand dreier Patienten nachgegangen, die unter Aphasie leiden - also Schäden in der linken, für die Sprachverarbeitung entscheidenden Gehirnhemisphäre aufweisen.
Probleme mit der Sprach-Grammatik, keine mit Mathematik
Sie wurden einer Reihe von mathematischen bzw. sprachlichen Tests unterzogen, die auf gleiche grammatikalische Strukturen verweisen. So ist die Grammatik des Satzes "Der Löwe tötete den Mann" jener der Rechenaufgabe "59 weniger 13" parallel.

Bei der konkreten Behandlung dieser Aufgaben zeigten sich bei den Patienten erstaunliche Unterschiede. Während sie keine Schwierigkeiten hatten, den Unterschied von "59 weniger 13" und "13 weniger 59" zu erkennen und die richtige Lösung zu berechnen, konnten sie zwischen den Sätzen "Der Löwe tötete den Mann" und "Der Mann tötete den Löwen" nicht unterscheiden.
Ähnliche Strukturen, unterschiedliche Verarbeitung
Schwierigere Relativsätze ("Dies ist der Hund, der die Katze beunruhigte, die eine Ratte fraß ...") blieben ihnen im Gegensatz zu strukturell vergleichbaren mathematischen Aufgaben (etwa: 90 - (3+17) x 3) - ebenfalls unverständlich.

Der Schluss der Forscher: Sprache und Mathematik mögen ähnliche Strukturen haben und Regeln folgen, offensichtlich werden sie aber vom Gehirn unterschiedlich verarbeitet.

Mit ihren Resultaten stellen sie sich u.a. gegen den "Godfather der Grammatik" Noam Chomsky, der etwa 2002 in einem "Science"-Artikel davon ausgegangen war, dass mathematische Ausdrücke auf syntaktischen Mechanismen der Sprache beruhen.
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Die entsprechende Studie "The Faculty of Language: What Is It, Who Has It, and How Did It Evolve?" von Marc Hauser, Noam Chomsky und Tecumseh Fitch ist in "Science" (Bd. 298, S. 1569, Ausgabe vom 22.11.02 ) erschienen.
->   Die Studie in Science (kostenpflichtig)
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Zwei alternative Erklärungsmodelle
Varley und ihr Team schlagen zwei Alternativen vor: Entweder haben Sprache und Mathematik ein gemeinsame syntaktische Grundlage, auf die beide unabhängig voneinander zugreifen können, und mathematische Ausdrücke müssen nicht in sprachliche umgewandelt werden - das würde erklären, warum die Patienten richtig rechnen, aber nicht mehr sprechen können.

Oder aber es gibt tatsächlich eine auch anatomische Autonomie von syntaktischen Mechanismen für Mathematik und für Sprache: nicht schon in der Entwicklung des Gehirns, aber beim fertigen kognitiven Apparat - den Erwachsenen.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 15.2.05
->   Rosemary Varley, Universität Sheffield
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
->   Schon Kleinkinder können addieren und subtrahieren (13.9.04)
->   Zahlen bis vier sind dem Menschen angeboren (1.8.03)
->   Gehirn: Schon Babys haben einseitige Sprachverarbeitung (9.9.03)
->   Links im Hirn: Der Sitz von Chomskys "Universal-Grammatik" (23.6.03)
 
 
 
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01.01.2010