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Neue Selbstständigkeit: "Prekariat" verändert die Welt  
  Werkverträge, freie Dienstverhältnisse und neue Selbstständigkeit sind Schlagworte, die längst nicht mehr nur das Leben einer gesellschaftlichen Randgruppe bestimmen. Der italienische Soziologe Sergio Bologna betonte bei einem kürzlich in Wien gehaltenen Vortrag, dass der gesamte so genannte Mittelstand grundlegend verändert werde. Statt des "Proletariats", das am 1. Mai auf sich aufmerksam macht, würde heute das "Prekariat" Wissenschaft und Politik herausfordern.  
Einzelunternehmertum als Phänomen des Mittelstands
Immer größere Teile der Wertschöpfung von Unternehmen werden über außen stehende Dritte abgewickelt werden, ganze Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche machen sich selbstständig.

Einzelunternehmertum ist heute ein Phänomen des Mittelstands, dessen Netzwerke angesichts der immer kürzeren Projektzyklen zu zerfransen drohen, hielt der Wiener Soziologie Harald Katzmair als Vorredner zu Sergio Bologna fest. Als Antwort seien umfassende politische Konzepte gefragt.
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"Prekariat": Hochflexibel und schlecht abgesichert
Die prekär Beschäftigten werden mehr, und sie arbeiten meist unter schwierigen sozialen Bedingungen: Ihr Arbeitsleben zeichnet sich durch flexible Arbeitszeiten, die Abrufbereitschaft und eine im Vergleich mit Angestellten schlechtere sozialrechtliche Absicherung aus.

Von Betroffenen und Wissenschaftlern wurde deshalb für diese Gruppe - in Analogie zum "Proletariat" - der Begriff des "Prekariats" gebildet.
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Früher sollten Gegensätze ausgeglichen werden ...
Das "Prekariat" stellt Wissenschaft und Politik vor neue Herausforderungen, hielt der Soziologe Sergio Bologna in seinem Vortrag fest, in dem er erste Einblicke in sein im Herbst 2005 erscheinendes Buch "Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur Neuen Selbstständigkeit" bot: Das Arbeitsrecht stammt aus einer Zeit, als die Wirtschaft noch auf Massenproduktion und Fließbandarbeit basierte.

Es wurde davon ausgegangen, dass zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern ein Ungleichheitsverhältnis besteht, das durch Gesetze und den Sozialstaat ausgeglichen werden sollte.
->   Mehr zum Wirtschaftsmodell des Fordismus (Wikipedia)
... heute vereinen sie sich zu "Neuen Selbstständigen"
Die Neuen Selbstständigen aber vereinen die früher als Gegensätze verstandenen Charakteristika in einer Person: Sie sind Unternehmer und Arbeitnehmer gleichzeitig, meist fungieren sie auch noch als Investor, ohne dessen Kapital die "Firma" gar nicht arbeiten könnte.
Von zentralisierten Betrieben zu "Netzwerkunternehmen"
Dass diese neuen Formen von Selbstständigkeit in den letzten Jahren massiv zunahmen - in Italien machen die "Neuen Selbstständigen" schon ein Drittel der gesamten Arbeitskraft aus -, führt Soziologe Bologna auf strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft zurück:

Während früher zentralisierte Betriebe dominierten, die möglichst viel in ihren Hallen produzieren wollten, dominieren heute die "Netzwerkunternehmen".
Auslagerungen zahlen sich aus
"Netzwerkbetriebe" lagern möglichst große Teile ihrer Wertschöpfung an Dritte aus, was sich für sie auszahlt: Laut einer 2002 durchgeführten Analyse der Wertschöpfung italienischer Unternehmen zählten jene Firmen zu den rentabelsten, die 80 Prozent ihrer Tätigkeit über "Außenleistungen" abwickelten.

Angeheizt wurde diese Entwicklung durch die neuen Informationstechnologien, mit denen dezentrale Arbeit realisiert werden konnte.
Prekariat: Häufig in kreativen oder innovativen Bereichen
Harald Katzmair, Soziologe und Geschäftsführer des auf Netzwerkanalysen spezialisierten Unternehmens FAS.research, sieht noch ein anderes besonderes Kennzeichen des Prekariats: Seine Vertreter gehören überdurchschnittlich oft kreativen oder innovativen Bereichen an.

Neue Selbstständige finden sich besonders häufig in der Softwareproduktion, bei Medien, im Consulting, in Grafik und Design, im Gesundheitsbereich, in der Forschung und im Umfeld wissenschaftlicher Dienstleistungen sowie in Kunst und Kultur.
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Studie "Creative Industries"
Untermauerung für diese These liefert eine 2004 von drei wissenschaftlichen Instituten publizierte Studie zu den "Creative Industries" in Wien. In der Analyse heißt es, dass "Freelancer weit häufiger mit der Erbringung kreativer Leistungen beauftragt werden als die Festangestellten".

Im audiovisuellen Sektor und in "Grafik, Design und Werbung" werden bis zu 100 Prozent der freien MitarbeiterInnen für kreative Tätigkeiten eingesetzt. Die Schlussfolgerung der Studie: "Die Bedeutung der Freelancer mit den kreativen Anforderungen der Branche steigt, weshalb ihnen in den CIs insgesamt eine herausgehobene, unvergleichbar bedeutendere Stellung zukommt als das in anderen volkswirtschaftlichen Sektoren der Fall wäre."
->   Die Studie "Untersuchung des ökonomischen Potenzials der 'Creative Industries' in Wien" (pdf-Datei)
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Out-sourcing des Innovationsrisikos
"Die kreative Produktion hat sich aus den bestehenden Institutionen und Organisationen mit abgesicherten Jobs und Karriereverläufen an eine prekarisierte Peripherie und Semiperipherie ausgelagert", so Katzmair in seinem Einleitungsvortrag zu Sergio Bologna: "Das Innovationsrisiko wurde in den vergangenen Jahren buchstäblich out-gesourced."

Da sich gleichzeitig auch die Projektzyklen verkürzen und damit das Tempo am Arbeitsmarkt immer größer wird, hat der einzelne kaum mehr Gelegenheit, seine Beziehungsgeflechte zu vertiefen. Der Mittelstand verfügt zunehmend über zerfledderte und ausgefranste Netzwerke mit vielen Lücken.
Zerbröckelnde Basis für stabile Kontakte
"Die Menschen kommen überhaupt nicht mehr dazu, gemeinsame Interessen, Werte, Ziele, Anschauungen zu formulieren, geschweige denn praktisch zu erfahren", so Katzmair.

Es fehlt schlicht die Zeit für den Aufbau von Sicherheit gebenden Netzwerken, und auch jene Institutionen, die bisher den Arbeiter- und Mittelschichten eine solide Basis gegeben haben, zerbröckeln. Als Beispiel nennt Katzmair die Universitäten, wo in den vergangenen Jahren der Druck, schnell zu studieren und damit wenig Zeit in soziale Kontakte zu investieren, massiv erhöht wurde.

Die Kehrseite der "Do-it-alone Mentalität" sieht der Soziologe in Burn-Out, Depression und sozialem Isolationismus.
"Angestelltenverhältnis für alle" greift zu kurz
Wie können aber Antworten auf diese Entwicklungen aussehen? Die Forderung nach einem klassischen Angestelltenverhältnis für alle, wie er oft aus Gewerkschaftskreisen laut wird, läuft angesichts der aktuellen Situation ins Leere, waren sich Sergio Bologna und Harald Katzmair einig.

Gefragt seien vielmehr umfassende politische Reformen, denn eine erfolgreiche Gesellschaft könne es sich nicht leisten, dass ihre innovativsten Teile nach wenigen Jahren Berufstätigkeit ausgebrannt und isoliert seien.
Integrierendes Bildungssystem und Grundsicherung
Ein Bildungssystem, das nicht auf Segregation setzt, sondern Menschen stabile Netzwerke aufbauen lässt, gehört genauso zu den Vorschlägen der beiden Soziologen, wie ein Anrecht auf soziale Absicherung für alle - gleichgültig in welchem Arbeitsverhältnis sie tätig sind.
Investment in stabile Netzwerke gefragt
Grundrechte wie etwa das Streikrecht, das für neue Selbstständige nicht greift, müssten überdacht und neue Formen der Interessenorganisation gefunden werden. Dabei gehe es vor allem um die Integration der indivualisierten "Prekarier" in stabile Netzwerke, in deren Errichtung Gewerkschaften und Politik investieren müssten.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 29.4.05
->   Interview mit Sergio Bologna in "malmoe"
->   FAS.research
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01.01.2010