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Forscher entdecken "Jennifer-Aniston-Neuron"  
  Wie visuelle Wahrnehmung im menschlichen Gehirn verarbeitet und gespeichert wird, ist umstritten. Eine - oft belächelte - These geht davon aus, dass einzelne Nervenzellen mit bestimmten Inhalten korrespondieren. Genau das haben nun US-Neurologen entdeckt. Ihnen zufolge gibt es etwa Nervenzellen, die für Schauspieler wie Jennifer Aniston oder Brad Pitt stehen. Der Entdeckung des Herman-Maier-Neurons oder einer Arabella-Kiesbauer-Nervenzelle steht somit nichts mehr im Wege.  
Rodrigo Quian Quiroga vom California Institute of Technology und sein Team berichten von ihren Aufsehen erregenden Studien in der aktuellen Ausgabe von "Nature".
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Die Studie "Invariant visual representation by single neurons in the human brain" ist in "Nature" (Bd. 435, S. 1102, Ausgabe vom 23. Juni 2005) erschienen.
->   Original-Abstract in "Nature"
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Zwei Konzepte der Bildverarbeitung
Das visuelle System von Säugetieren gilt als sehr komplex. In der Neurobiologie existieren im Prinzip zwei verschiedene Konzepte, die den Vorgang der Bildverarbeitung erklären.

Auf der einen Seite wird er als hierarchischer Prozess betrachtet, der von der Ebene der Sinnesorgane ausgeht und bei Wahrnehmungszentren im Gehirn endet, deren Aktivität dann die Repräsentation der Wahrgenommenen darstellt. Auf der anderen Seite wird von einer Parallelverarbeitung der Sinneseindrücke ausgegangen, die zum Gesamteindruck führen.
Gnostische Nervenzellen ...
Die meisten Studienergebnisse sprachen für den hierarchischen Verarbeitungsprozess: In den 1960er-Jahren entdeckten Neurophysiologen spezialisierte Nervenzellen im Hirn der Katze, die nur durch visuelle Informationen über Objektkonturen - und sonst nichts - erregbar sind.

Der polnische Neurophysiologe Jerzy Konorski entwickelte daraus das Konzept so genannter gnostischer Nervenzellen. Dabei handelt es sich um einzelne Zellen, die auf komplexe Objekte, Gestalten oder sogar Szenen spezifisch reagieren. Diese Zellen wären so etwas die Spitze der Hierarchie.

In den 1980er-Jahren wurden gar Neuronen gefunden, die ausschließlich für optische Muster der Gesichtererkennung verantwortlich waren ("Gesichterneuronen").
... spöttisch auch "Großmutterzellen"
Die Annahme, dass es tatsächliche einzelne Neuronen gibt, die immer nur bei der Ansicht ganz bestimmter Objekte feuern, traf aber nicht nur die Gegenliebe der Forschergemeinde.

Vom amerikanischen Neurowissenschaftler Jerry Lettvin stammt der scherzhafte Begriff der "Großmutterzelle" - die stets aktiv wird, wenn die eigene Großmutter ins Gesichtsfeld tritt.

Genau solche Großmutterzellen scheinen nun aber die Forscher um Rodrigo Quian Quiroga nachgewiesen zu haben - auch wenn es sich um "Schauspielerzellen" handelt.
Acht Epileptikern Elektroden eingepflanzt
Das Ergebnis ihrer Studie: Jennifer Aniston, Brad Pitt, Halle Berry regen jeweils ganz spezifische Nervenzellen an - und zwar sowohl wenn es sich um Bilder der Schauspieler handelt, als auch nur um Schriftzüge ihrer Namen.

Wie die Forscher betonen, lagen ihre Erfolge vor allem daran, dass sie Studien mit lebenden Menschen durchführen konnten: Sie setzten acht freiwilligen Epilepsiepatienten Elektroden ins Gehirn ein und untersuchten die Nervenströme im mittleren Schläfenlappen des Gehirns.

Die Reaktionen individueller Neuronen wurden auf einem Bildschirm als Spitzen eines Graphen dargestellt.
Zelle unterscheidet zwischen Aniston und Aniston/Pitt
Bei einem der acht Probanden feuerte ein Neuron im linken hinteren Hippocampus bei 30 von insgesamt 87 vorgelegten Bildern - und zwar bei allen, auf denen Jennifer Aniston zu sehen war, aber nicht - oder viel schwächer - bei Bildern anderer Schauspieler, Sehenswürdigkeiten, Tiere oder Objekten.

Die Zelle reagiert noch nicht einmal, wenn Aniston mit Brad Pitt gemeinsam - bis vor kurzem einem Vorzeigepärchen Hollywoods - zu sehen war.
Gleiche Reaktion bei Porträts, Filmrollen oder Schriftzügen
Bei einem anderen Patienten wurde ein Neuron im rechten vorderen Hippocampus aktiv bei Bildern von Halle Berry - auch dann, wenn es sich um eine Karikatur der Schauspielerin handelte, wenn sie in einer ihrer Rollen als "Catwoman" verkleidet war und wenn bloß der Schriftzug ihres Namens zu sehen war.
Geringe Anzahl spezialisierter Nervenzellen
51 der insgesamt über 130 untersuchten Neuronen reagierten in der Studie spezifisch und individuell auf bestimmte Gesichter, Gebäude oder andere Objekte - sie verhielten sich wie die von vielen belächelten Großmutterzellen.

Die Forscher gehen deshalb davon aus, dass es sich um ein beständiges und sparsames System handelt, dass auf der "obersten Ebene" der Reizverarbeitung mit Wahrnehmungsinhalten korrespondiert: Nur eine relativ geringe Anzahl von spezialisierten Nervenzellen sei nötig, die für die Übertragung von komplexen visuellen Reizen in das Langzeitgedächtnis von Bedeutung sind.

Das US-Neurologenteam weiß, dass ihre Ergebnisse im Widerspruch zu vielen anderen Gehirnstudien stehen, die den Schwerpunkt eher auf die Relayfunktion von Nervenzellen legen. Ob sie tatsächlich die "Großmutterzellen" gefunden haben, ist noch bei weitem nicht klar.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 23.6.05
->   Jerry Lettvin
->   Genealogy of the "grandmother cell"
->   Koch Laboratory (Caltech)
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   Wie "visuelle Erwartungen" die Wahrnehmung beeinflussen (20.9.04)
->   Studie: Wie individuell sieht der Mensch die Welt? (12.3.04)
->   Hirnforscher: Auch Sehen will gelernt sein (17.2.04)
->   Wie entsteht die Welt im Kopf? (17.7.02)
 
 
 
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01.01.2010