News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 
Das "soziale Hirn" ist Frauensache  
  Einer Hypothese zufolge ist das große Gehirn der Primaten unter den besonderen Bedingungen des Gruppenlebens entstanden. Die Idee dahinter: Die Sozialkontakte in der Gruppe sind derart kompliziert, dass leistungsfähigere Gehirne einen Selektionsvorteil darstellen. Ein schwedischer Forscher fand nun heraus, dass diese Hypothese eigentlich nur für Weibchen zutrifft.  
Wie Patrik Lindenfors von der University of Virginia berichtet, weisen jene Primatenarten einen relativ großen Neocortex auf, in deren Sozialverbänden besonders viele Weibchen leben. Bei Männchen gibt es diesen Zusammenhang nicht.
...
Die Studie "Neocortex evolution in primates: the "social brain" is for females" von Patrik Lindenfors erscheint auf der Website des Fachjournals "Biology Letters" (doi:10.1098/rsbl.2005.0362).
->   Zur Studie (sobald online)
...
Tiere ersten Ranges
Für Carl von Linne waren sie die "Ersten und Vornehmsten". Darum nannte er Halbaffen, Affen und Menschenaffen "Primaten", Tiere ersten Ranges, die von den übrigen Säugetieren ("secundates") abzugrenzen sind. Eine besondere Noblesse würde man den Primaten heute vermutlich nicht mehr zuschreiben, aber in einer Hinsicht sollte der schwedische Naturforscher recht behalten.

Punkto Hirngröße sind die Primaten tatsächlich die Nummer eins. Ihre Gehirne sind rund doppelt so groß wie jene der übrigen Säugetiere gleicher Körpergröße - und das ist ohne Zweifel erklärungsbedürftig.
->   Primaten - Wikipedia
"Machiavellistische Intelligenz"
In den 1950er Jahren entstand unter Primatenforschern die Idee, das könnte mit einer anderen besonderen Eigenschaft dieser Tiergruppe zu tun haben, nämlich mit deren ausgeprägter Sozialität.

Richard W. Byrne und Andrew Whiten von der University of St Andrews entwickelten daraus im Jahr 1988 die Hypothese der "machiavellistischen Intelligenz", die - kurz gefasst - folgendes besagt: Die Lebensweise der Primaten in sozialen Kleingruppen habe eine Art kognitives Wettrüsten ausgelöst, bei dem es primär darum geht, Koalitionen zu schmieden, Konkurrenten in Sachen Ernährung und Partnerfindung zu täuschen oder ihnen zumindest gedanklich voraus zu sein.

Das habe sich wiederum im Aufbau des Gehirns manifestiert und zu einer Vergrößerung der Hirnrinde, vor allem des so genannten Neocortex, geführt.
->   What is Machiavellian intelligence? (nootropics.com)
Großes Hirn durch Gruppenleben
Robin Dunbar von der University of Liverpool konnte später nachweisen, dass es tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Größe von Primatengruppen und dem Volumen des Neocortex gibt.

Dunbars Schluss daraus: Das ungewöhnlich große Hirn von Affen und Menschen ist mit Sicherheit ein "social brain" - und zwar unabhängig davon, ob das nun mit machiavellistischen Strategien oder mit anderen Sozialfaktoren zu tun hat.
...
Faktor Ernährung?
Andere Forscher führten ins Treffen, dass darüber hinaus auch ökologische Einflüsse eine Rolle spielen könnten. So hat beispielsweise Robert A. Barton von der University of Durham bei manchen Affen eine Korrelation zwischen der Neocortexgröße und einem hohen Anteil von Früchten im Speiseplan nachgewiesen.

Der vermutete Zusammenhang: Die Großhirnrinde ist u. a. mit der Verarbeitung visueller Reize befasst, und die Suche nach farbigen Früchten im Gewirr der Pflanzen ist offenbar so anspruchsvoll, dass sie zu einem Wachstum derselben geführt hat.
...
Geschlechter leben unterschiedlich
Einen neuen Aspekt bringt nun Patrik Lindenfors in die Diskussion ein. Er betont, dass männliche und weibliche Affen eigentlich in ganz unterschiedlichen sozialen Umwelten leben. So bleiben Weibchen der meisten Arten ihr Leben lang bei derselben Gruppe, während sich Männchen im Erwachsenenalter anderen Verbänden anschließen.

Darüber hinaus sind es nur die Weibchen, die ihren Aufenthaltsort den Umweltbedingungen anpassen. "Männchen gehen schlicht dorthin, wo bereits Weibchen sind", schreibt Lindenfors in seiner aktuellen Studie.
These nur für Weibchen gültig
Das alles spreche dafür, dass die Hypothese vom "sozialen Hirn" vor allem für weibliche Primaten gelte. Allerdings gibt es derzeit keine Daten, anhand derer man die relative Größe des Neocortex bei beiden Geschlechtern vergleichen könnte.

Lindenfors wählte daher einen indirekten Ansatz und untersuchte stattdessen die Größe männlicher und weiblicher Verbände. Das Ergebnis: Der Neocortex ist bei den Arten besonders ausgeprägt, wo relativ viele Weibchen in den Gruppen leben. Bei männlichen Tieren gibt es diesen Zusammenhang nicht.

Daraus schließt Lindenfors, dass Primatenweibchen einen relativ größeren Neocortex aufweisen müssten und ihren männliche Artgenossen auch in Sachen sozialer Intelligenz überlegen sein sollten.
Sonderfall Mensch?
Gilt das auch für den Menschen? Im Gespräch mit science.ORF.at gibt sich Lindenfors zurückhaltend. Seine Hypothese gelte zwar für alle sozialen Primatenarten, nur der Mensch stelle seiner Ansicht nach einen Sonderfall dar:

"Zur extrem raschen Zunahme unseres Hirnvolumens im Lauf der Evolution gibt es kein Gegenstück in der restlichen Tierwelt. Das legt nahe, dass man für das menschliche Gehirn eine gesonderte Erklärung finden muss."

Robert Czepel, science.ORF.at, 25.8.05
->   Website von Patrik Lindenfors (University of Virginia)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010