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Sinnvolle und nützliche Depressionen?  
  Depressionen sind die wesentliche Ursache für die meisten Selbstmorde. Einige Formen der Depression können sich allerdings auch als sinnvoll und hilfreich für Betroffene erweisen.  
Depression als Reaktion auf gefährliche Situationen
''Depression stellt sicher, dass wir unsere Energie nicht an Dinge verschwenden, die es nicht wert sind'', so Randolph M. Nesse, Professor für Psychiatrie an der Universität von Michigan.

Nach Meinung des Wissenschaftlers sind depressive Gefühle eine Reaktion auf gefährliche und unerwünschte Situationen.
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Was verursacht Depressionen?
Seit Jahrzehnten gibt es heftige Diskussionen innerhalb der Fachwelt, ob Depressionen durch krankhafte Prozesse im Gehirn, also rein organische Ursachen oder durch individuelle psychische Gegebenheiten und Schicksalsschläge (seelische Ursachen) bedingt sind. Bei der ganzheitlichen Sichtweise wird die Depression nicht nur als quasi ''sinnlose, krankhafte Störung'' angesehen, sondern als sinnvolles ''Alarmsignal der Seele'', als (überschießende) Anpassungsreaktion bei massiver psychischer Belastung. Die Depression ist nach dieser Sichtweise also eigentlich ein Schutzmechanismus bei seelischer bzw. emotionaler Überlastung.
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Am Beispiel einer unglücklichen Beziehung
Nesse erläutert seine These am Beispiel eines Menschen, der in einer äußerst unbefriedigenden Beziehung lebt: Er wird sich dann immer mehr vom Partner zurückziehen, das Interesse am Sexuellen verlieren und den Partner kaum noch ansprechen.

Sobald eine derartige Beziehung beendet ist, müsste in vielen Fällen auch die depressive Stimmung verschwinden, meint der amerikanische Psychiater.
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Die Symptome der Depression
Als Depression bezeichnen Fachleute eine, mindestens 14 Tage andauernde, alle Lebensbereiche negativ beeinflussende Stimmungsveränderung. Die Hauptsymptome sind:
- anhaltend gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit
- Interessenverlust und Antriebsstörung
- Biorhythmusstörungen, v.a. Schlafstörungen und Morgentief
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Depressionen für das Überleben notwendig?
Auch in der Tierwelt sieht Randolph M. Nesse seine Überzeugung bestätigt, dass Depressionssymptome wie fehlende Motivation und Passivität in Situationen nützlich sein können, in denen Handeln wenig ratsam und sogar gefährlich ist.

''Wenn viel Schnee liegt und die Temperaturen niedrig sind, dann wird die Futtersuche für das Wild ungeheuer schwierig und aufwändig. Um nicht unnötig Energie zu verschwenden, bleibt es daher still stehen und wartet - auch wenn es hungrig ist''.
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Fehlgeleitete Lernprozesse
Aus der Sichtweise der Verhaltenspsychologie entsteht Depression in Folge fehlgeleiteter Lernprozesse. Die wichtigsten Modelle der Verhaltenspsychologie, die das Entstehen und Aufrechterhalten einer Depression erklären, sind:
- Das Verstärkerverlustmodell
- Die erlernte Hilflosigkeit
- Das kognitive Modell
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Angst: Vermittler zwischen Trieb und Lust
Auch die deutschen Psychotherapeuten Nossrat Peseschkian und Udo Boessmann kommen zu einer ähnlichen Einschätzungen der Krankheit. "Ängste und Depressionen sind Alarmzeichen, die Schlimmeres verhüten sollen."

"Sie sind ein Aufbegehren des Körpers und der Seele gegen reale Gefahren, ungelöste Konflikte, untragbare Belastungen, unerfüllte Bedürfnisse und ungenutzte Potenziale".

"Durch Ängste und seelischen Schmerzen vollziehen wir die notwendige Anpassung an die Gegebenheiten des Daseins", schreiben sie in ihrem Buch "Angst und Depression im Alltag".
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Das Verstärkerverlustmodell
Der Mensch tendiert dazu, einmal erfolgreich verlaufene Verhaltensmuster zu wiederholen. Diese "erfolgreichen" Verhaltensweisen können durch "Verstärkungen" beeinflusst werden. Wenn meine Mitmenschen z. B. plötzlich auf eine andere Art meines Verhaltens mit einem Lächeln (=Verstärkung) reagieren, werde ich meine Verhaltensweise ändern, damit sie mir freundlich (=Erfolg) begegnen. Durch einschneidende Veränderungen der Lebenssituation kann es dem Betroffenen plötzlich nicht mehr möglich sein, positive Verstärkungen für sein Verhalten zu bekommen. Das bedeutet: Bisher erfolgreiche Verhaltensweisen werden nicht mehr verstärkt und neue stehen (noch) nicht zur Verfügung. Der Mangel an positiven Verstärkern macht depressiv und dadurch eine Änderung des Verhaltens unmöglich.
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Zeit als Ursache der Depression
Auch der Publizist Lothar Baier beschreibt in seinem neuen Buch "Keine Zeit!" eine Form verweigerter Anpassung: Der Depressive zieht sich unbewusst von den sich in immer schnellerem Rhythmus verändernden gesellschaftlichen Realitäten zurück. Er fühlt sich von ihnen überfordert.

Baier zitiert den Soziologen und Psychologen Götz Eisenberg: "Menschen geraten in große Identitätsnot, wenn der Film der äußeren Realität schneller läuft als der Text, den sie dazu sprechen."
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Die erlernte Hilflosigkeit
Sie entsteht, wenn eine Person über lange Zeit hinweg lernen musste, dass sie keine Kontrolle und Entscheidungsgewalt über die Ereignisse in ihrem Leben hat. Da sie die Erfahrung gemacht hat, dass unabhängig von ihren Handlungen die Konsequenzen ihres Tuns außerhalb ihrer Kontrolle liegen, verliert sie jegliche Initiative und Motivation.
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Über die Einteilung der Zeit
Zu den übermächtigen sozialen und kulturellen Angeboten unserer Gesellschaft gehören auch die "Zeitvernichtungsfelder". Jedem Menschen werden täglich durch Filme, Computer, Musikvideos, Radiosendungen und Werbung ein Vielfaches mehr als die ihm zur Verfügung stehende Stundenzahl angeboten.
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Das kognitive Modell
Die kognitive Verhaltenstherapie geht davon aus, dass negative Gedanken die Ursache für negative Gefühle sind. Mit anderen Worten: Ich denke, ich bin unfähig und minderwertig, also fühle ich mich wertlos, unfähig und minderwertig. Diese Art zu denken haben die Betroffenen oft schon in ihrer Kindheit "gelernt". Sie bestimmt dann auch die Sichtweise des Lebens im Erwachsenenalter.
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Das knappe und kostbare Gut Zeit
"Zeit erscheint dann besonders knapp, wenn man nicht genug davon auf einmal vernichten kann. Jedes neu hinzukommende Fernsehprogramm, jedes neue Magazin, jede neue Website vermehrt die Vernichtungsmöglichkeiten". Die Situationsbeschreibung macht begreiflich, warum manche Menschen unbewusst in eine Depression ausweichen .

(dpa/red)
"Keine Zeit! 18 Versuche über die Beschleunigung", Verlag Antje Kunstmann, München, 224 ATS, ISBN 3-88897-245-0
->   Antje Kunstmann - Verlag
 
 
 
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01.01.2010