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Die Bedeutung der Psychoanalyse heute  
  Die Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse wurde seit ihrem Anbeginn in Zweifel gestellt. Dazu trugen auch die vielen "innerfamiliären" Kontroversen bei. Ursache dafür ist die ganz besondere Praxis der Psychoanalyse, meint Christine Diercks, Vorsitzende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV), in einem Gastbeitrag: der ebenbürtige Dialog zwischen Analytiker und Analysand, der versucht, Unbewusstes zu verstehen. Deshalb stellt die WPV im Freudjahr 2006 auch die großen Fallgeschichten in den Mittelpunkt ihrer Vorlesungen.  
Ist Freud heute noch relevant?
Von Christine Diercks

Die Theorie Freuds und die Psychoanalyse sind überall präsent, auch dann, wenn es kein Freudjahr gibt. Viele der Freudschen Begriffe sind inzwischen Allgemeingut geworden und ein selbstverständlicher Teil unserer Alltagssprache.

Dazu gehören unter anderem das Unbewusste, die Verdrängung, der Ödipuskomplex, das Triebleben, die "Freudschen Versprecher", die Fehlleistungen und die Bedeutung der psychosexuellen Entwicklung in der frühen Kindheit.

Die Psychoanalyse ist längst Teil unserer Kultur und auch als Theorie allen Interessierten zumindest auf den ersten Blick relativ leicht zugänglich. Aber heißt dies auch, dass Freud heute noch Relevanz hat? Ist die Psychoanalyse für uns heute immer noch relevant?
Keine geschlossene Theorie
Bei einer intensiveren Beschäftigung mit Freud entgleiten die zuerst gefundenen Gewissheiten. Die Fallbeschreibungen sind wie Novellen zu lesen. Wir finden Mythen und Analogien anstelle von Formeln.

Vergeblich suchen wir eine geschlossene Theorie, die einfache, konsistente Übersicht. Sicherheit, Beweise, Widerspruchsfreiheit sind kaum zu haben. Seit Freud hat sich die Psychoanalyse sehr stark ausdifferenziert und weiterentwickelt. Der Zugang zur Psychoanalyse ist damit für Laien noch komplizierter geworden.

Die zahllosen zeitgenössischen psychoanalytischen Autoren verfolgen jeweils ihre Spezialthemen und gehören unterschiedlichen psychoanalytischen Schulen an. Nicht selten sind sie untereinander in heftige Kontroversen verstrickt.
Zahlreiche Kontroversen erklären sich ...
Diese die Psychoanalyse begleitende, endlose Folge von Kontroversen und ihr erzählender Aufbau erklären sich aus den besonderen Bedingungen der Generierung psychoanalytischer Erfahrung und Theorie.

Psychoanalyse existiert da, wo sie praktiziert wird: im Dialog zwischen Analytiker und Analysand, der darauf ausgerichtet ist, Unbewusstes zu verstehen und damit zugänglich zu machen.

Praxis und Erkenntnis in der Psychoanalyse sind also wesentlich an diejenigen gebunden, die sich diesem Dialog tagtäglich wirklich stellen.
... aus besonderen Bedingungen der Psychoanalyse
Die im Gespräch zwischen Analytiker und Analysand verhandelte intrapsychische Realität ist nicht einfach zu fassen und lässt sich nicht direkt bestätigen.

Schon ein Bericht über den Dialog bildet eine Realität ab, die in einem nicht zu bestimmenden Ausmaß kontaminiert ist vom Erleben des Berichterstatters, denn die unbewussten Mitteilungen des Analysanden werden vom Unbewussten des Analytikers miterlebt, aufgenommen, verarbeitet und in bewusste Gedanken übersetzt.

Das klingt einfach, in klinischer und in wissenschaftstheoretischer Hinsicht ist die Psychoanalyse jedoch mit einer Fülle methodischer Probleme konfrontiert. Diese methodischen Probleme sind aber nicht ihr anzulasten, sondern liegen in ihrem Forschungsgegenstand begründet.
Psychoanalyse - eine Theorie in Bewegung
Bereits Freud hatte festgestellt, dass der Forschungsgegenstand der Psychoanalyse nicht dem normalwissenschaftlichen Verständnis einer objektiven, empirisch identifizierbaren Realität entspricht.

Johann August Schülein (1999: Die Logik der Psychoanalyse) beschreibt diese besonderen Bedingungen näher: Psychoanalytische Erkenntnis ist Teil eines interaktiven Prozesses, in dessen Verlauf der Gegenstand der psychoanalytischen Erkenntnis - die unbewusste seelische Dynamik - erst zugänglich gemacht werden kann.

Nach Schülein ist die Psychoanalyse damit eine typische "konnotative" Theorie und demnach dadurch charakterisiert, dass sie nur in der Kontroverse, in der Bewegung existiert.
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Bewegungen solcher Art, so sagt es Schülein, "haben keinen festen Ort, sondern leben in der Balance, die ihre Bewegung erlaubt und bietet. Sie erbringen ihre Leistung durch Zirkulation, weil Konnotationen immer auf weitere Konnotationen verweisen. (...) Was damit unmissverständlich deutlich wird: Psychoanalytische Theorie existiert als (...) dauerhafte Arbeit am und mit ihrem Gegenstand." (S. 374)
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Entstehung und Entwicklung verfolgen
Natürlich finden sich in der psychoanalytischen Literatur Zusammenfassungen und Kompendien, diese waren mir immer sehr wertvoll zum Nachschlagen.

Aber wirklich zu verstehen gelingt mir - selbst auf der Ebene der Theorie - nur, wenn ich Schritt für Schritt nachvollziehe, wie die Psychoanalyse entstanden ist und wie und wo sie sich weiterentwickelt hat - mit all ihren Brüchen, Inkonsistenzen, Widersprüchen und in all ihrer Unvollständigkeit.

Ich denke, dass sich in der Gesamtheit der uns heute zur Verfügung stehenden Fachliteratur etwas vom Aufbau und der Funktionsweise der Psyche selbst widerspiegelt.
Anfangszeit Gerüst für Kommendes
Eine mir sehr hilfreiche Orientierung in diesem schwer fassbaren Theoriegebäude war mir immer schon das Studium der allerersten Anfänge Freuds.

In dieser Anfangszeit ist natürlich vieles noch nicht entdeckt, erstaunlich vieles aber schon angelegt. Manche dieser ersten Thesen werden bald wieder verworfen, nicht selten später wieder aufgenommen, in anderen Zusammenhängen modifiziert und neu interpretiert.

Aber diese Anfänge dienen mir als ein Gerüst, als eine erste Übersicht, von hier aus kann man die Verästelungen und das ganze differenzierte Theoriegebäude verfolgen, das die komplexen psychischen Bildungen und die Dynamik des unbewussten Seelenlebens nachzeichnet - bis hin zu dem Wissen, über das wir heute verfügen.
Analysanden sind ebenbürtige Partner
Dieses Wissen verdankt sich nicht nur den Leistungen der großen Forscher, es verdankt sich in gleichem Maße all den Analysanden, die die Herausforderung angenommen haben, sich mit sich selbst bekannt zu machen und dafür zuständig zu sein.

Sie sind nicht Untersuchungsgegenstand und (passive) Objekte von Therapiemaßnahmen. Sie sind vor allem die maßgeblichen Autoren des analytischen Prozesses, der Suche nach der dem Bewusstsein verborgenen inneren Wahrheit.

Wie gerade die frühe Geschichte der Psychoanalyse zeigt, waren es nicht selten die Patienten selbst, die einen entscheidenden Anstoß für die Entwicklung der Psychoanalyse gegeben haben. (Und heute wird man - zumindest im Rahmen der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung - nur mehr Psychoanalytiker, wenn man sich selber zuvor einer Analyse unterzogen hat.)
Fallgeschichten im Mittelpunkt der Vorlesungen
Deshalb haben wir in den Sigmund Freud-Vorlesungen 2006 die ersten, die "großen Krankengeschichten der Psychoanalyse und die Geschichten dieser großen Kranken" in den Mittelpunkt gestellt.

Sie eignen sich nicht nur hervorragend zur Einführung in die Psychoanalyse. Die Auseinandersetzung mit ihnen ermöglicht auch jenen, die über keine eigene psychoanalytische Erfahrung verfügen, Wissen und Gespür dafür zu entwickeln, worum es in der Psychoanalyse eigentlich geht.
->   Freud-Vorlesungen zu "großen Krankengeschichten"
Worum es in der Psychoanalyse geht
In ihrem Kern ist die Psychoanalyse die Auseinandersetzung mit all dem, was sich unserer bewussten Kenntnis entzieht, was uns beunruhigt und schmerzt, von dem wir - mit aller Macht - nichts wissen wollen, das uns aber - gerade deshalb - umso mehr treibt und bestimmt.

Psychoanalyse existiert nur, wo sie praktiziert wird: im Dialog zwischen Analytiker und Analysanden, der darauf ausgerichtet ist, dieses Unbewusste zu verstehen und in einer konstruktiven Leistung zugänglich zu machen.
Existiert nur in der Praxis
Ihr wissenschaftlicher Gehalt ist zwar von der klinischen Situation unabhängig, kann sich aber ohne den klinischen Dialog nicht verwirklichen, jedenfalls nicht auf Dauer. Praxis und Erkenntnis in der Psychoanalyse sind also wesentlich an diejenigen gebunden, die sich diesem Dialog stellen.

Daran hat sich, obwohl sich die Psychoanalyse seit Freud sehr weiterentwickelt hat, in den letzten hundert Jahren nichts geändert.

Psychoanalyse existiert nur da, wo sie praktiziert wird: Das heißt aber auch, dass die Analyse selbst der Ort ist, an dem sie für uns, so viele Jahre nach Freud, erst Relevanz entwickeln kann.

[19.1.06]
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Über die Autorin
Christine Diercks ist Vorsitzende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV).
->   WPV
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science.ORF.at bringt im "Freud-Jahr 2006" eine Reihe von Gastbeiträgen und redaktionellen Texten. Bisher erschienen:
->   Andre Gingrich: Freud - Zwischen Respekt und Skepsis (9.1.06)
->   Das wird das Sigmund-Freud-Jahr 2006 (2.1.06)
->   Freud-Jahr 2006 in Radio Österreich 1
 
 
 
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01.01.2010