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Ist der Darwinismus eine säkulare Religion?  
  Der US-amerikanische Wissenschaftsphilosoph Michael Ruse vertritt in seinem letzten Buch die provokante These, dass der Darwinismus quasi-religiöse Züge trägt. Konkret ist damit nicht die Evolutionstheorie gemeint, sondern das ideologische Beiwerk, das Biologen in ihren populären Schriften verbreiten.  
Das werfe auch ein neues Licht auf den aktuellen Streit zwischen Evolutionisten und Kreationisten, so Ruse: Es handle sich dabei gewissermaßen um eine familieninterne Auseinandersetzung.
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The Evolution Creation Struggle von Michael Ruse erschien 2005 bei Harvard University Press.
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Richard Dawkins wird wütend
Als Richard Dawkins im August letzten Jahres bei den Alpbacher Technologiegesprächen auf die jüngste Kontroverse zwischen dem Darwinismus und der Lehre vom "Intelligent Design" angesprochen wurde, reagierte der Oxforder Zoologe ungewöhnlich heftig: Die Leugnung der Evolution sei für die Biologie genauso absurd wie die Infragestellung des Holocaust für die Geschichtswissenschaft, donnerte der Oxforder Zoologe ins Publikum.

Und fügte an: Sollte ein Student in einer seiner Vorlesungen derlei kreationistischen Unsinn vertreten, er würfe ihn hochkant aus dem Hörsaal. Nun sei Schluss mit Lustig, er habe genug von dieser unsäglichen Debatte.
->   Richard Dawkins: Evolution genauso Fakt wie Holocaust
Heftiger als nötig?
Stellt sich die Frage: Warum so emotional? Schließlich sollte es einen gestandenen Evolutionsbiologen, wie Dawkins einer ist, relativ wenig tangieren, wenn sich Vertreter der Kirche oder der krypto-kreationistischen Lehre vom "Intelligent Design" (ID) zu Kritikern des Darwinismus aufschwingen.

Sollte Dawkins nicht auf Angriffe gelassener reagieren, wenn sie von Personen stammen, die mit seiner Fachdisziplin ähnlich wenig zu tun haben wie etwa Luciano Pavarotti mit, sagen wir: Springreiten?

Und: Warum musste gerade der Holocaust - mit all seinen problematischen Konnotierungen - als historischer Vergleich herhalten, hätte es nicht auch der Dreißigjährige Krieg oder die Schlacht von Trafalgar getan?
Evolution ...
Bild: Harvard University Press
Antworten auf Fragen dieser Art liefert das letzte Buch des US-amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Michael Ruse. Er vertritt in The Evolution Creation Struggle die These, dass die mitunter sehr heftig geführte Debatte zwischen Neo-Darwinisten und Kreationisten kein Disput zwischen Wissenschaft und Religion sei, sondern primär eine Art Familienstreitigkeit, bei der zwei religiöse Spielarten aufeinanderprallen.

Diese These wird nur dann verständlich, wenn man eine zentrale Unterscheidung berücksichtigt, auf der Ruse seine Argumentation aufbaut. Der Begriff "Evolution" steht bei Ruse für den Artenwandel, der als unumstößliches Faktum in die Wissenschaft integriert ist, und für die etablierte (neo-darwinistische) Theorie, die evolutionäre Prozesse erklärt.

Über deren prinzipielle Richtigkeit gibt es für Ruse keine Diskussion: "Lassen sie mich offen sein. Ich glaube, dass die Evolution ein Faktum ist und dass der Darwinismus auf triumphale Weise regiert", lauten etwa die ersten beiden Sätze seines Buches Can a Darwinian be a Christian? aus dem Jahr 2001, und sein Standpunkt hat sich seitdem nicht verändert.
... und Evolutionismus
Interessant wird es indes beim Begriff des "Evolutionismus", den Ruse für die metaphysischen und ideologischen Gebäude reserviert, die rund um die nüchterne Wissenschaft errichtet wurden: Etwa die Idee des evolutionären Fortschritts, die sich bei vielen Autoren - von Lamarck bis Wallace und, subtiler, selbst bei Dawkins - findet, wenngleich die empirischen Fakten auch eine völlig andere Lesart der Naturgeschichte zulassen.

Viele Biologen waren bzw. sind nach Ruse mit einer Art Janusgesicht ausgestattet: Als Forscher hielten sie sich an die strengen methodologischen Regeln ihrer Disziplin, als Autoren jedoch ließen sie allerlei weltanschauliches Material in ihre populären Schriften einfließen, getarnt unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit.
Beispiel: Sozialdarwinismus
Ein drastisches Beispiel dafür ist etwa Ernst Haeckels Versuch, gesellschaftliche Normen aus der Natur abzuleiten, wie eine Textstelle aus "Die Lebenswunder" (1904) zeigt:

"Es kann daher auch die Tötung von neugeborenen verkrüppelten Kindern ... vernünftigerweise nicht unter den Begriff des Mordes fallen, wie es noch in unseren modernen Gesetzbüchern geschieht. Vielmehr müssen wir dieselbe als eine zweckmäßige, sowohl für die Beteiligten, wie für die Gesellschaft nützliche Maßregel billigen."
Verwandtschaft zum Millenarismus?
"Evolution war ihre Profession ... Evolutionismus ihre Obsession", konstatiert Ruse, schürft nach den historischen Ursprüngen dieser ideologischen Schlagseite - und wird beim so genannten Postmillenarismus fündig. Züge dieser religiösen Lehre, die eine bessere Welt und die Wiederkehr Christi verspricht, fänden sich nämlich auch im Evolutionismus, so Ruse, wenngleich in einer säkularen Variante, die ohne Erlöser auskommt.

Ganz von der Hand zu weisen ist die These jedenfalls nicht, wenn man etwa bedenkt, dass der britische Biologe Julian Huxely den von ihm vertretenen "evolutionären Humanismus" als "Religion ohne Erlösung" bezeichnet hat und Ernst Haeckel auf dem Freidenker-Kongress von 1904 gar zum Gegenpapst ausgerufen wurde.
->   Millenarismus
Keine Lösung für die Lehrplanfrage
Soweit der historische Blickwinkel. Für den aktuellen Streit um den Darwinismus bedeutet das zweierlei: Zum einen wird verständlich, warum die Debatten heftiger geführt werden, als sie - sachlich betrachtet - sein müssten. Zum zweiten fordert Ruse im Schlusskapitel seines Buches, dass die Streitparteien einander nicht bekämpfen, sondern verstehen lernen sollten.

Eine Frage lässt er mit diesem versöhnlichen Ende allerdings offen, wie kürzlich der US-Biologe Sahota Sarkar im Fachjournal "Science" (Bd. 309, S. 560) anmerkte: Das prinzipiell begrüßenswerte Verständnis zeige nämlich nicht, wie man Lehrpläne an Schulen vor kreationistischen Eingriffen schützt.

Robert Czepel, science.ORF.at, 24.2.06
->   Website von Michael Ruse
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01.01.2010