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Türkische Familie läuft auf allen vieren  
  Britische Forscher rätseln über eine Familie, deren fünf erwachsene Kinder sich fast ausschließlich auf allen vieren fortbewegen. Die geistig zurückgebliebenen Geschwister im Alter von 18 bis 34 Jahren sind nicht im Stande, dauerhaft auf zwei Beinen zu gehen.  
Sie folgen durch ihre ungewöhnliche Fortbewegung einem Urinstinkt, der im menschlichen Erbgut festgeschrieben, im Laufe der Evolution aber in den Hintergrund getreten sei, berichtet der Evolutionspsychologe Nicolas Humphrey von der London School of Economics.
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Hierzu erschien auf der Website des Centre for Philosophy of Natural and Social Science das Diskussionspapier "Human hand-walkers: five siblings who never stood up" von Nicholas Humphrey, John R. Skoyles und Roger Keynes.
->   Zum Artikel
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TV-Dokumentation geplant
Es sei erstaunlich, dass das menschliche Skelett diese Art der Fortbewegung auf Dauer aushalte, betont Humphrey. Er ist Mitautor einer Filmdokumentation, die die BBC am 17. März unter dem Titel "The Family That Walks on All Fours" ausstrahlen will.

Die BBC kündigte an, der Film stelle "fundamentale Fragen darüber, was Menschsein heißen kann".
Laufen auf den Handballen
 
Bild: Nicolas Humphrey et al.

Den Angaben zufolge lebt die Familie in einem kleinen Dorf im Süden der Türkei. Die Eltern seien als Cousins nahe Verwandte. Drei der Kinder bewegten sich ausschließlich auf allen Vieren fort, die beiden anderen könnten einige Schritte aufrecht gehen.

Beim Krabbeln stützen sie sich auf den Handballen und strecken die Finger nach oben. Wissenschaftler vermuten, dass sich Menschen in einem frühen Stadium der Evolution genauso fortbewegten. Die Finger würden so geschützt für anspruchsvollere Aufgaben.
Gendefekt verändert Stammhirn
Stefan Mundlos vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin hat das Erbgut der Betroffenen genauer unter die Lupe genommen und einen Gendefekt am Chromsom 17 festgestellt. Dieser werde rezessiv vererbt und führe zu einer Verkümmerung im Stammhirn.

Allerdings warnt er gegenüber Spiegel-Online vor einer unzulässigen Verknappung der Kausalbeziehungen: "Das sind alles komplexe Eigenschaften, die nicht von einem Gen bestimmt werden. Man kann nicht mit einem einzigen Gen 20 Millionen Jahre Evolution rückgängig machen."

Dennoch scheine es im Genom Schlüsselstellen zu geben, an denen kleine Veränderungen zu großen Wirkungen auf der Ebene des Verhaltens führen.
Vermutlich ein Atavismus
 
Bild: Nicolas Humphrey et al.

Mundlos betrachtet das vorliegende Verhalten als Atavismus, als eine Art naturgeschichtlichen Rückschlag, bei dem sich verborgene evolutionäre Muster erneut manifestieren.

Beispiele dafür sind beim Menschen etwa zusätzliche Brustwarzen entlang der Milchleiste, ein kleiner, äußerlich hervortretender Schwanzfortsatz am Ende der Wirbelsäule sowie eine fellartige Ausbildung der Körperbehaarung.
->   Atavismus - Wikipedia
Psychosoziale Faktoren nicht ausgeschlossen
Manche Forscherkollegen gingen indes nicht unbedingt von einem Gendefekt aus, so Humphrey. Möglicherweise hätten es die Eltern verabsäumt, ihren Kindern das Gehen auf allen Vieren abzugewöhnen.

Es könnten also sehr wohl auch psychosoziale Faktoren zu diesem Verhaltensmuster beigetragen haben.

[science.ORF.at/AFP, 7.3.06]
Links zum Thema:
->   Times: Walking on all fours with the ancestors
->   Spiegel: Fünf Geschwister bewegen sich auf allen Vieren fort
->   BBC: Family may provide evolution clue
->   Website von Nicolas Humphrey
->   Arbeitsgruppe von Stefan Mundlos
 
 
 
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01.01.2010