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Von Sigmund Freud zu den "Super Nannys"  
  Der "Kleine Hans" war Sigmund Freuds erste Fallgeschichte eines Kindes. Bereits vor 100 Jahren betonte er, wie wichtig es für die Entwicklung von Kindern sei, Verständnis für ihre Ängste und Nöte aufzubringen - und Fehlverhalten nicht nur zu strafen. Ein revolutionärer Ansatz, wie die Psychotherapeutin Karin J. Lebersorger in einem Gastbeitrag meint: Freuds Erkenntnisse seien noch heute für die Erziehung von großem Wert - ganz im Gegenteil zu den Konzepten, die von den medial inszenierten "Super Nannys" verkörpert werden.  
Die Bedeutung des Verstehens in der Elternarbeit
Von Karin J. Lebersorger

Seit vielen Jahren arbeite ich als klinische Psychologin und Psychotherapeutin am Institut für Erziehungshilfe in Wien. Wir bieten Eltern bei psychischen Problemen ihrer Kinder und Jugendlichen Beratung und bei Bedarf Kinderpsychotherapie an.

Das Institut knüpft seit seiner Gründung im Jahr 1949 an die Tradition der psychoanalytischen Erziehungsberatungsstellen der Wiener Zwischenkriegszeit an, denen durch den Nationalsozialismus ein gewaltsames Ende gesetzt wurde.
Das Phänomen "Super Nanny"
Auf das Phänomen "Super Nanny" wurde ich erstmals durch Äußerungen von Eltern aufmerksam, als diese mediale Erziehungsberatung, deren Konzept mittlerweile auch von ATV+ übernommen wurde, noch ausschließlich auf deutschen Privatsendern lief. Die Wünsche nach einer Super Nanny im eigenen Heim, die alle Probleme im Nu löst, wurden teils scherzhaft geäußert und machten mich neugierig.

So sah ich mir mehrere Sendungen an und fand mich zeitweise fassungslos: Intime Konfliktsituationen einer Familie wurden mir und einem Millionenpublikum medial aufbereitet vorgeführt. Die Kinder werden oftmals als kleine Monster dargestellt, denen es Grenzen zu setzen gilt. Nach den Gründen ihrer Verhaltensauffälligkeiten wird meist nicht gefragt.

Viele Interventionen der Super Nanny sind drastische Maßnahmen, die auf Verhaltensmodifikation abzielen, und mir wichtig erscheinende Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung völlig außer Acht lassen.
Großer Kritik ausgesetzt
Sowohl der Deutsche Kinderschutzbund als auch die Kinder- und Jugendanwaltschaft Österreich kritisieren, dass die festgeschriebenen Rechte jedes Kindes auf Schutz der Privatsphäre und auf gewaltfreie Erziehung durch die Reality Soap verletzt werden.

Trotz zahlreicher kritischer Stellungnahmen von Fachleuten verschiedener Disziplinen gewinnt die Quote, die die voyeuristische Lust des Publikums abbildet.
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Sigmund Freud Vorlesungen in Wien
Die Sigmund Freud Vorlesungen 2006 der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und des Wiener Arbeitskreises für Psychoanalyse widmen sich den "großen Krankengeschichten". Am Wochenende steht "Der Kleine Hans" im Mittelpunkt und mit ihm "Sigmund Freud (1909): Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben". Karin J. Lebersorger wird dabei einen Vortrag halten. Titel: "Von Sigmund Freud zu den Supernannys. Die Bedeutung des Verstehens in der Elternarbeit".

Zeit: Samstag, 22. April 2006, 10-20 Uhr
Ort: Haus Wittgenstein, Parkgasse 3, 1030 Wien
->   Programm (pdf-Datei)
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Freud als Pionier des Verstehens in der Elternarbeit
Psychoanalytisch orientierte Erziehungsberatung geht andere Wege. Basierend auf Konzepten Sigmund Freuds hat sie sich im Laufe von über 100 Jahren ständig weiterentwickelt. Die Bedeutung früher Beziehungserfahrungen für spätere Beziehungsgestaltung, unbewusste Anteile des Seelenlebens, Gefühle, Träume, Phantasien spielen eine wesentliche Rolle.

Freud beschreibt als erster, dass auch Kinder eine sexuelle Entwicklung durchlaufen und diese nicht erst mit der Pubertät beginnt. Die verschiedenen Phasen der infantilen Sexualität bilden die Grundlage für die Sexualität Erwachsener.
Notwendigkeit einer altersgemäßen Aufklärung
Obwohl heute Begriffe wie Ödipuskomplex und Kastrationsangst im Sprachgebrauch verankert sind, fließen Freuds Erkenntnisse noch immer viel zu wenig in verstehendes erzieherisches Handeln ein. So werden kindliche Sexualäußerungen oftmals nicht verstanden und als Unarten, die es zu beseitigen gilt, abgetan.

Freud zeigt, dass Kinder voll Neugier bezüglich des Geschlechtsunterschieds sind und eigene infantile Sexualtheorien zu Schwangerschaft und Geburt entwickeln. Für ihn ist eine altersgemäße Aufklärung, ausgehend vom kindlichen Fragen notwendig, weil sie die Denkentwicklung fördert und vertrauensvolle Beziehungen schafft, wenn das Wissen-Wollen des Kindes ernst genommen wird.
Der "Kleine Hans" - ...
Die Fallgeschichte des "Kleinen Hans" ist für die Elternarbeit und unser Verständnis der kindlichen Entwicklung von großer Bedeutung. Die "Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben", publiziert 1909, war Freuds erster "Kinderfall".

Zuvor hatte er nur Erwachsene analysiert und davon ausgehend die psychoanalytische Theorie entwickelt. In der Analyse des "Kleinen Hans" findet Freud seine theoretischen Überlegungen bestätigt. Hans entwickelt mit dreieinhalb Jahren nach der Geburt seiner Schwester eine Pferdephobie, die sich in der Angst, aus dem Haus zu gehen und von Pferden gebissen zu werden, äußert.
... ein Fall für die Super Nanny?
Freuds Überlegungen zur Arbeit mit den Eltern des "Kleinen Hans" sind auch heute noch in vielen Aspekten wegweisend. In intensiver Auseinandersetzung mit dem Vater versucht er, Verständnis für die kindliche Symptomatik zu entwickeln.

Freud betont, dass dieser Prozess Zeit braucht: "Es ist gar nicht unsere Aufgabe, einen Krankheitsfall gleich zu 'verstehen', dies kann erst später gelingen, wenn wir uns genug Eindrücke von ihm geholt haben."

Hans' Gedanken und Phantasien werden ernst genommen, das Verstehen mit ihm geteilt, seine Ängste verschwinden ohne ihn Bloßzustellen oder gewaltsame Maßnahmen zu ergreifen. Die Eltern klären Hans auf Freuds Anregung hin auch über den Geschlechtsunterschied, Schwangerschaft und Geburt, alles Fragen die Hans sehr beschäftigten, auf.

Revolutionär an Freuds Ansatz ist, dass Hans für sein Verhalten nicht gemaßregelt oder bestraft, sondern in seinen Nöten und Ängsten ernst genommen und verstanden wird. Die Super Nannys bewerten unerwünschtes kindliches Verhalten oft als Angriff auf die Eltern, das es zu bekämpfen gilt. Die Interventionen zielen auf Symptombeseitigung durch Belohnung, Verbot und Strafe und nicht auf Veränderung auf der Basis von Verständnis ab.
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Buch
Die Zitate stammen aus: Sigmund Freud, 1909: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben. Gesammelte Werke, Band VII, Fischer, Frankfurt, S. 241-377.
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Mit Scham und Wut ...
Wenn Eltern Schwierigkeiten mit ihren Kindern haben, stellen sich Enttäuschung, Scham, Selbstzweifel Schuldgefühle und großes Leid ein. Nur in einem geschützten Rahmen können diese Gefühle und damit oft verbundene Ambivalenz oder Wut dem Kind gegenüber thematisiert werden.

In ausführlichen Gesprächen haben nicht nur die Entwicklung des Kindes, sondern auch die Lebensgeschichte der Eltern, Erwartungen und Delegationen an das Kind, mögliche Familiengeheimnisse, Konflikte, die schon seit mehreren Generationen bestehen und die unbewussten Dynamiken Platz.
... umgehen lernen
Auch die individuelle Situation des Kindes wird in Gesprächen, im Spiel und mittels psychologischer Untersuchung zu erfassen versucht. Anders als bei den Super Nannys gibt psychoanalytische Erziehungsberatung Lösungen nicht von außen vor, sondern eröffnet einen Reflexionsprozess. So können Eltern aufgrund neu gewonnener Einsichten selbst für sie passende Veränderungen anstreben.

Sie zielt auf Konfliktlösung und Verständnis der Situation aller Beteiligten und nicht auf kurzfristige Symptombeseitigung und ein angepasstes, dressiertes Kind ab. Denn, so Freud: "Mir will scheinen, wir geben zu viel auf Symptome und kümmern uns zu wenig um das, woraus sie hervorgehen. In der Kindererziehung gar wollen wir nichts anderes als in Ruhe gelassen werden, keine Schwierigkeiten erleben, kurz, das brave Kind züchten und achten sehr wenig darauf, ob dieser Entwicklungsgang dem Kinde auch frommt."
Die Super Nanny - eine Scheinlösung
Eltern verspüren in unserer immer komplexeren Welt und in einer Zeit der Auflösung tradierter Wertvorstellungen ein großes Bedürfnis nach Orientierung. Sie zeigen oft große Unsicherheit in ihrer Erziehungshaltung, meinen perfekt sein zu müssen und wünschen sich einfache Anleitungen und rasche Lösungen.

Die Super Nannys tragen diesen Bedürfnissen Rechnung. Eltern haben heute aber die Wahl, ihre Erziehungsprobleme öffentlich zu verhandeln und sich übergestülpten Lösungen zu unterwerfen, oder in einen Beratungsprozess, wie ihn zum Beispiel psychoanalytische Erziehungsberatung bietet, einzusteigen, und den längeren, aber spannenden und geschützten Weg des gemeinsamen Verstehens zu gehen.

[21.4.06]
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Über die Autorin
Karin J. Lebersorger ist klinische und Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin und Kandidatin der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (Analytikerin in Ausbildung).
->   Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV)
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->   Alle Beiträge zum Freudjahr in science.ORF.at
->   Ö1 Programmschwerpunkt zum 150. Geburtstag von Freud
 
 
 
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01.01.2010