News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Die Rolle Europas im "Welt-Bürgerkrieg"  
  Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen haben sich seit dem 11. September 2001 ausgeweitet. Der deutsche Soziologe Clemens Albrecht bezeichnet dies als einen "globalen Bürgerkrieg". Europa, so meint er in einem Gastbeitrag, könne dabei eine besondere Rolle spielen, wenn es sich der eigenen Geschichte besinnt und eine Mittlerrolle einnimmt zwischen dem Anti-Terror-Krieg der USA und dem politischen Islam. Albrecht leitet beim Europäischen Forum Alpbach 2006 ein Seminar zu dem Thema.  
Europas Aufgabe im globalen Bürgerkrieg
Von Clemens Albrecht

Der 11. September 2001 hat die Welt verändert. Man mag darüber streiten, ob diese Veränderung eher von der neuen Bedrohungslage durch den islamischen Fundamentalismus ausgeht oder von der überbordenden Reaktion der USA, die Eckdaten der Veränderung zeichnen sich inzwischen klar ab:

War die Besetzung Afghanistans in weiten Teilen der Welt noch als angemessene Reaktion gewertet worden, um dem Terrornetzwerk den Operationsboden zu entziehen, so änderte sich die Akzeptanz der amerikanischen Politik mit der Eroberung des Irak.

Seitdem scheint der Westen unaufhaltsam in eine Konfrontation mit immer weiteren Kreisen des politischen Islam zu geraten, die das Potential zu einem globalen Konflikt hat.
Wiederkehr der Geschichte
Huntingtons Vermutung, dass unter den denkbaren Szenarien für die Weltpolitik nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes der "clash of civilizations" die wahrscheinlichste Variante sei, hat sich jedenfalls bestätigt. Der "Krieg gegen den Terror" eskaliert vor unseren Augen zu einem Kampf der Kulturkreise.

Vielleicht noch schwerer wiegt jedoch die Tatsache, dass die Einheit des Westens Geschichte ist. Parallel zur Ausbreitung der westlichen Lebensweise zeigen sich mannigfaltige Brüche, die nicht nur in der politischen Interessenlage verankert sind, sondern auf unterschiedliche historische Erfahrungen und Werteinstellungen verweisen.

Wir erleben mit dem Sieg von Demokratie und globalem Kapitalismus eben nicht das Ende, sondern die Wiederkehr der Geschichte.
...
Seminar beim Europäischen Forum in Alpbach
Clemens Albrecht von der Universität Koblenz und Eveline Goodman-Thau von der Hermann-Cohen-Akademie in Buch/Odenwald leiten beim Europäischen Forum Alpbach 2006 das Seminar "Europe between Tradition and Modernity" (17.-24.8.06). science.ORF.at stellt dieses und weitere Seminare in Form von Gastbeiträgen vor.
->   Europäisches Forum Alpbach
...
Europas Sonderweg der Säkularisierung ...
In dieser Lage ist Europa herausgefordert, seine partikularen Traditionsbestände erneut nach zukunftsfähigen, also universalisierbaren Elementen zu durchforsten. Eine zentrale Sonderstellung nimmt dabei das europäische Verhältnis zur Religion ein.

Während innerhalb Europas die Religionen und Konfessionen auf der einen Seite einen hohen Grad an Institutionalisierung, an Verkirchlichung aufweisen, scheint umgekehrt ihre Bedeutung für Lebenswelt, Sinnsysteme und Politik unaufhaltsam zu schwinden.

Die Säkularisierung ist jedoch ein europäischer Sonderweg. Nur in Europa öffneten sich die Kirchen und Konfessionen über ihre rationalen Theologien geisteswissenschaftlichen Aufklärungsprozessen, die durch intellektuelle Sublimierung die Glaubensbasis aushöhlten.
... als Herausforderung und Chance
Heute steht Europa der globalen Wiederkehr der Religionen von den USA über Indien bis in den Orient, die sich als Varianten und Grade des "Fundamentalismus" zeigt, ratlos gegenüber.

Hier liegt eine intellektuelle Aufgabe; denn ein Verständnis für die zentrale Bedeutung von Religionen bei der Fundierung unterschiedlicher Lebensformen und Sinnwelten ist der Schlüssel, um die gegenwärtige Konfliktlage zu verstehen. Sie lässt sich nicht durch Modernisierung und Säkularisierung befrieden.

Aber gerade die Modernisierungsskepsis Europas, die Tatsache, dass unser Kontinent in vielfacher Hinsicht ein gebranntes Kind ist und gegenwärtig keine Hoffnung auf ökonomischen oder politischen Machtzuwachs gegenüber Indien, China und den USA hegt, prädestiniert Europa zu einer neuen Vermittlerrolle zwischen dem Islamismus auf der einen und einem Liberalismus auf der anderen Seite, der sich über die neokonservative Missionsidee längst in eine politische Religion verwandelt hat.
Skepsis gegenüber Heilsversprechungen
Historisch erwuchs die heilsame Skepsis gegenüber religiösen und säkularen Heilsversprechungen aus der bitteren Erfahrung großer Bürgerkriege, die Europas Geschichte geprägt haben:

Der erste, der europäische Bürgerkrieg, entstand im 16. Jh. durch die Glaubensspaltung, die sich alsbald mit verschiedenen Interessenlagen vermengte und in Frankreich, England und dem Heiligen Römischen Reich zu Verheerungen ungeheuren Ausmaßes führte.

Die Institution, durch die dieser europäische Bürgerkrieg überwunden wurde, war der souveräne Staat, der das Monopol zur Gewaltausübung den streitenden Parteien entwand und durch länderspezifische Ausgleichssysteme (Edikt von Nantes, Westfälischer Frieden, Bill of rights) den religiösen Konflikt politisch kanalisierte.
Demokratie bindet Hoffnungen
Der zweite Bürgerkrieg umfasste nicht nur Europa, sondern die ganze nördliche Halbkugel. Er begann 1789 und verschärfte sich ab 1914, indem die Heilserwartungen, die früher religiös gebunden waren, sich nun auf die großen politischen Ideologien der Neuzeit (Nationalismus, Positivismus, Sozialismus) übertrugen.

Der nördliche Bürgerkrieg endete im Jahr 1989. Die Institution, durch die ein Staat nach dem anderen aus den totalitären Blocks herausgebrochen wurde, war die kapitalistische Demokratie, die mit ihren Wohlstands- und Partizipationsversprechungen die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft erneut binden konnte.
Politischer Islam: Rückkehr der Heilserwartungen
Seit den späten 70er Jahren, der islamischen Revolution im Iran und dem parallelen Aufstieg der religiösen Rechten zur bestimmenden politischen und intellektuellen Kraft in den USA, erleben wir nun den Beginn eines globalen Bürgerkrieges, der durch die Rückkehr der Heilserwartungen in den Deutungsraum der Religion geprägt ist, die sich deshalb nicht mehr als Tradition, sondern als revolutionäre politische Ideologie präsentiert.

In ihm hat Europa seine Rolle noch nicht gefunden, es schwankt zwischen dem historischen Reflex, der aus der Einheit des Westens übrig geblieben ist, und einer Distanzierung von den Akteuren, welche weder über Machtmittel noch eine politische Konzeption verfügt, die über den Tag hinausreicht.
Europa muss seine Strategie erst finden
Europa sollte sich auf die Suche nach derjenigen Institution begeben, die in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft den globalen Bürgerkrieg befrieden kann. Europas Kompass ist die aufgeklärte Skepsis, die in zwei Bürgerkriegen gewonnene Distanz gegenüber religiösen Heilsversprechungen auf der einen, säkularen auf der anderen Seite.

Denn weder aus dem Sieg des Islam noch aus dem Sieg des American way of life wird eine stabilisierbare Welt erwachsen. Beide bedienen sich, nach unterschiedlichen Mustern, der Befriedungsstrategien von Imperien.
Kernfrage: Legitimität von Lebensstilen
Die USA deuten ihren "Krieg gegen den Terror" nach dem überholten Muster des nördlichen Bürgerkrieges, indem sie hoffen, die hegemoniale Expansion der kapitalistischen Demokratie werde die Probleme lösen.

Sie verkennen dabei jedoch den partikularistischen Charakter ihrer Form der Freiheit, mit der andere, ebenfalls religiös fundierte Lebensformen nicht vereinbar sind.

Denn im globalen Bürgerkrieg geht es auch um die Frage, ob jenseits des westlichen noch andere Lebensstile legitim sind, die nicht auf dem Glücksstreben des Individuums, sondern auf der Ehre von Gruppen fußen.
Erbe der Vielvölker-Reiche ...
Demgegenüber hat Europa ein Erbe, an das anzuknüpfen sich lohnte: die Tradition der kultur , sprach und volksgruppenübergreifenden Reiche (Habsburger Monarchie, Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Commonwealth, Europäische Union), die aufgrund ihrer vielfältigen inneren Brüchigkeit ein Minimum an Einheit durch dauernde politische Ausgleichsarbeit organisieren, ohne doch die Vielfalt der kollektiven Lebensverhältnisse zu gefährden.

Diese Reiche sind nach außen schwach, sie operieren immer am Rande des Zerfalls, können aber eben deshalb nach innen eine Toleranz institutionalisieren, die, wie Lessings Ringparabel, die Stellung und Bedeutung unterschiedlicher Sinn- und Lebensformen nicht tangiert, die Entscheidung über ihre Richtigkeit aber unter einen skeptischen Vorbehalt stellt.
... könnte ein Vorbild für die Zukunft sein
In einer globalisierten Welt, die ihre politisch-religiösen Bürgerkriege, imperialen Ambitionen und Ressourcenkämpfen einhegt, könnten solche Reiche jenseits der Nationalstaaten eine politische Ordnungsidee sein, die berechtigte, weil skeptisch wachsame Hoffnungen auf ein besseres Leben bindet, ohne in die Radikalität religiöser oder säkularer Heilsversprechungen abzugleiten, kurz: die in humanistisch-europäischer Tradition das dem Menschen zuträgliche Maß an Hoffnung institutionalisiert.

[8.8.06]
...
Über den Autor
Clemens Albrecht, geboren 1959. Studium der Ethnologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Geschichte und Empirischen Kulturwissenschaft in Stuttgart und Tübingen; 1992 Promotion mit einer Arbeit über die Sozialgeschichte des Zivilisations- und Gesellschaftsbegriffes in der französischen Salonkultur bei Friedrich H. Tenbruck; 1991-1993 Mitarbeiter an der Universität Tübingen im Forschungsprojekt "Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule". 1993-1999 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Didaktik der politischen Bildung der Universität Potsdam, 1999 habilitiert. Vertretungs- und Gastprofessuren an den Universitäten Heidelberg und Graz, lehrt seit April 2002 an der Universität Koblenz/Landau.
->   Clemens Albrecht
...
Die Seminare des Forum Alpbach 2006 in science.ORF.at:
->   Rudolf Taschner: Die Null und mathematische Unsicherheiten (1.8.06)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010