News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 
Forscher entwickeln "Fernsteuerung" für Menschen  
  Forschern ist es erstmals gelungen, Menschen durch künstliche Signale im Innenohr gewissermaßen fernzusteuern. Auf diese Weise fanden die Testpersonen trotz verbundener Augen ihren Weg durch einen botanischen Garten.  
Die Experimente zeigten, dass die Kopfhaltung entscheidend für die Bewegungskontrolle beim aufrechten Gang ist. Davon berichtet ein Team um Richard C.Fitzpatrick von der University of New South Wales.
...
Dar Artikel "Resolving Head Rotation for Human Bipedalism" von Richard C.Fitzpatrick, Jane E.Butler and Brian L.Day ist im "Current Biology" (Bd.16, S. 1509-1514, 8.8.06) erschienen.
->   Abstract der Studie
...
Bewegungswahrnehmung für aufrechten Gang
Der zweibeinige Gang des Menschen (Bipedie) ist einzigartig im ganzen Tierreich. Bisher nahm man an, dass der Schlüssel für die menschliche Balance in der Fähigkeit liegt, den Körper entlang der Gravitationsachse auszurichten.

Das von den Forschern stimulierte Drehsinnorgan ist Teil des menschlichen Gleichgewichtsorgans. Seine Aufgabe ist allerdings nicht, die Richtung des Gravitationsfeldes aufzuspüren, sondern in erster Linie die Drehbewegungen des Kopfes zu verarbeiten. Das deutet darauf hin, dass auch die Wahrnehmung von Bewegungen entscheidend für unsere aufrechte Haltung ist.
Gleichgewicht und Steuerung
Gehen erfordert zwei voneinander unabhängige Aktionen unseres Gehirns: Einerseits muss es den Körper in seiner Haltung ausbalancieren, andererseits in die richtige Richtung steuern.

Um die aufrechte Haltung zu kontrollieren, werden unterschiedliche Typen sensorischer Informationen verarbeitet, die unter anderem vom visuellen System und vom Gleichgewichtsorgan geliefert werden. Auch die Navigation ist abhängig vom Sehen, da letzteres die notwendigen Daten über den Weg und die Entfernung zum Ziel liefert.
"Innere Landkarten" weisen uns den Weg
Allerdings verfolgt das Gehirn ein Ziel nicht permanent visuell, sondern greift auf interne Repräsentationen oder "innere Landkarten" der äußeren Welt zurück. So findet man etwa in einer vertrauten Umgebung auch im Dunkeln seinen Weg. Die meiste Zeit arbeitet das Gehirn in diesem Modus, das Sehen wird lediglich zur Aktualisierung der internen Repräsentationen verwendet.

Dadurch können wir andere Eigenschaften unserer Umgebung wahrnehmen, ohne uns auf den Weg zu konzentrieren. Das Gehen erfolgt durch so genannte Koppelnavigation. Das heißt, wir schätzen unsere Position, indem wir den Weg und die Entfernung seit der letzten optischen Fixierung im Raum berechnen.

Trotzdem braucht es in diesen unbewussten Phasen ein System, um den Kurs zu überwachen. Dabei spielt das Gleichgewichtssystem des Innenohrs eine wesentliche Rolle.
Ein Signal - zwei Informationen
Im visuellen System gibt es unterschiedliche Signale für Balance und Navigation, sie werden als unabhängige Eigenschaften eines Bilds repräsentiert. Anders beim Gleichgewichtsorgan: Ein einziges Signal sendet Informationen sowohl zur Haltung im Raum als auch zur Navigation. Das Signal des Drehsinnorgans ist allerdings nicht eindeutig.

Das heißt, das Gehirn muss diejenigen Teile des Signals extrahieren, die die jeweils notwendigen Informationen enthalten. So könnte ein und dasselbe Signal etwa bedeuten, dass der Körper eine Kurve geht, während der Kopf gerade ist, es könnte aber auch sein, dass der Körper zur Seite fällt, während der Kopf zu Boden schaut.

Deswegen benötigt das Gehirn Informationen über die momentane Haltung des Kopfes, da diese die Bedeutung des Signals verändern kann. Diese könnten entweder aus anderen sensorischen Signalen stammen oder auch aus der motorischen Steuerung.
Simulierte Kopfdrehungen für externe Steuerung
Um diesen Prozess zu untersuchen, beobachteten Fitzpatrick und sein Team Menschen, die mit verbundenen Augen bestimmte Strecken zurücklegen mussten. Während des Gehens erhielten die Versuchspersonen elektrische Signale über die Bogengangnerven des Drehsinnorgans, die normalerweise nur auftreten, wenn der Kopf gedreht wird.

Die Richtung und die Achsen dieser Drehung sind fixiert im Koordinatensystem des Kopfes, da sich das Gleichgewichtsorgan an einer bestimmten Stelle befindet. Das heißt, man kann die Ausrichtung dieser Achsen ändern, indem man den Kopf neigt.

Eine virtuelle Drehung um die vertikale Achse ist ein wichtiges Signal für die Navigation, eine um die horizontale ein Signal für die Balance.
Kurven durch künstliche Drehungen
Bei den Experimenten der Forscher stellte sich heraus, dass die elektrische Stimulation - je nach Lage des Kopfes - Auswirkung auf Balance und Navigation hatte.

Die Probanden mussten einen Weg von sechs Metern zu einem vorgegebenen Ziel zurücklegen, das sie kurz sehen konnten, bevor ihre Augen verbunden wurden. Ohne externen Stimulus erledigten die meisten die Aufgabe ohne Probleme.

Erhielten die Personen die künstliche Signale im Innenohr, gingen sie hingegen leichte Kurven, die sie vom Ziel wegführten, ohne dass ihnen das bewusst gewesen wäre.
"Fernsteuerung" durch einen botanischen Garten
Die Erkenntnisse dieser ersten Versuchsreihe kamen schließlich im "Sydney Botanic Garden" zur Anwendung: Dort gelang es tatsächlich, Personen mit verbundenen Augen minutenlang relativ exakt durch die Anlage zu "steuern".

So konnten die Wissenschaftler zeigen, wie das Hirn mit Hilfe komplexer mathematischer Berechnungen die für Balance und Steuerung notwendigen Informationen erhält, indem es aus einem einzigen Signal zwei Komponenten extrahiert: eine in der vertikalen Ebene zur Kontrolle des Gleichgewichts, ein zweite in der Horizontale zur Navigation.
Kontrolle der Bewegung wesentlich für Zweibeinigkeit
Diese Möglichkeit, Fortbewegung zu steuern und Illusionen von Körperbewegungen zu erzeugen, sollte laut Aussage der Forscher neue Einsichten in die räumliche Repräsentation und deren Transformation in unserem Gehirn liefern, welche zu neuen diagnostischen, therapeutischen und Virtual-Reality Anwendungen führen können.

Außerdem bestätigen die Untersuchungen Annahmen über die evolutionäre Veränderung des Drehsinnorgans, welche die verbesserte Bewegungserkennung erst ermöglicht hätten. Das würde bedeuten, dass die kontrollierte Bewegung, eher als die Balance, entscheidend für die Entwicklung der menschlichen Zweibeinigkeit war.

Eva Obermüller, science.ORF.at, 8.8.06
->   Gleichgewichtsorgan (Wikipedia)
->   Koppelnavigation (Wikipedia)
->   Prince of Wales Medical Research Institute and University of New South Wales
->   University College London
->   Richard C. Fitzpatrick
->   Jane E. Butler
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Leben 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010