News
Neues aus der Welt der Wissenschaft
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 
Bizarre Debatte um Vergangenheit von Habermas  
  Gibt es nach dem "Fall Grass", der sich heuer sehr spät an seine SS-Vergangenheit erinnerte, nun einen "Fall Habermas"? Wenn es nach einem Beitrag der rechtskonservativen Zeitschrift "Cicero" geht schon: Darin wird dem deutschen Philosophen seine Zeit in der Hitler-Jugend vorgehalten, in der er angeblich fest vom "Endsieg" überzeugt war.  
Habermas hat den Artikel ungewöhnlich scharf kritisiert und dem Autor "Denunziation" vorgeworfen. In einer "Stellungnahme" an "Cicero"-Chefredakteur Wolfram Weimer betonte er, dass er schon auf Grund seiner Behinderung keine Chance gehabt habe, sich als Jugendlicher mit der NS-Ideologie zu identifizieren.

"Ich habe auch nicht, was die Redaktion behauptet, "an den Endsieg" geglaubt." Bei Kriegsende 1945 war Habermas 15 Jahre alt.
"Unbequeme Intellektuelle abräumen"
Die Intellektuellen und die NS-Vergangenheit - ein weites Feld mit immer neuen Blüten, wie sich jetzt wieder zeigt. Immerhin geht es um die "selbstkritische Vergewisserung des Traditionshintergrundes, der - auch und vor allem - in akademischen Schichten verbreiteten Zustimmung zur NS-Herrschaft", wie es Habermas selbst formuliert.

Dabei sieht der Sozialphilosoph im aktuellen Fall aber auch "das durchsichtige Ziel..., zusammen mit Grass eine unbequeme Generation von Intellektuellen abzuräumen", wie Habermas jetzt in einem Brief an "Cicero" geschrieben hat, dessen Autor Jürgen Busche er "Denunziation" vorwirft.
Ein altes Gerücht: HJ-Vordruck verschluckt?
Busche setzt sich in seinem Bericht mit dem Titel "Hat Habermas die Wahrheit verschluckt?" mit dem seit Jahrzehnten in Intellektuellenkreisen kolportierten Gerücht auseinander, wonach Habermas einen von ihm als HJ-Mitglied ausgefüllten Vordruck-Zettel, den ihm deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler in den 70er Jahren wieder übergab, verschluckt haben soll.

Wehler war als 12-jähriger "HJ-Pimpf" mit dem 14-jährigen Habermas zusammen in einer Sanitäter-Lehrgangsgruppe. Mit dem Vordruck solle Habermas Wehler zur Teilnahme an den Lehrgängen aufgefordert haben.
->   Cicero: Hat Habermas die Wahrheit verschluckt?
Von Joachim Fest und "Cicero" aufgegriffen
In etlichen deutschen Feuilletons wurde Busche am Freitag vorgeworfen, mit infamen Spekulationen Habermas in NS-Nähe rücken und diffamieren zu wollen.

Das Gerücht mit dem verschlungenen Zettel, auf dem, wie Wehler der dpa sagte, nichts Kompromittierendes gestanden habe, weder "Heil Hitler" noch "Endsieg" oder dergleichen, hatte zuletzt der kürzlich gestorbene Publizist und Historiker Joachim Fest in seinen Memoiren "Ich nicht" aufgegriffen, ohne allerdings den Namen Habermas ausdrücklich zu nennen.
"Beredtes Schweigen" mancher Intellektuellen
Fest spricht in seinem Exkurs über Erinnerungslücken und "kommunikatives Beschweigen" der Intellektuellen sowie von "ungezählten Wegen sowie Nebenpfaden der Ausflucht".

Der heute 83-jährige Philologe und Literaturhistoriker Walter Jens räumte etwa 2003 nach dem Bekanntwerden seiner NSDAP- Mitgliedschaft ein, keine "Erinnerungsbilder" mehr daran zu haben und fügte hinzu: "Ein bisschen frühere Deutlichkeit, etwa am Ende der 50er und am Anfang der 60er Jahre, wäre um der umfassenden Redlichkeit willen angezeigt gewesen."

Ähnlich wurde in diesem Sommer auch im "Fall Grass" argumentiert. Grass selbst sprach in diesem Zusammenhang von seiner "leichten Verführbarkeit" eines 15-Jährigen.
Gegen die "Entsorgung der Vergangenheit"
Im so genannten Historikerstreit der 80er Jahre, in dem es um die Relativierung der NS-Verbrechen hing, beklagte Jürgen Habermas, dass es an Mut gefehlt habe, "das Risiko der Auseinandersetzung mit dem, was war, was wir waren, einzugehen".

Es habe Interventionen unterschiedlichster Art gegen die "Entsorgung der Vergangenheit" beziehungsweise die Reduktion der Aufarbeitung der Vergangenheit als "eine Art Schadensabwicklung" gegeben, wie es Jan Philipp Reemtsma in seiner Laudatio auf Habermas bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 sagte.
Habermas wehrt sich gegen Vorwürfe
Die jetzigen Vorwürfe gegen sich sieht Habermas als "Lappalien" an, die nur als "Ranküne" bezeichnet werden könnten, "die das Klima der Bundesrepublik Jahrzehnte lang vergiftet hat".

Im "Windschatten der Affäre Grass" lebe ein "Histörchen-Streit" wieder auf, eine "zum Skandal aufgeblasene Anekdote" mit "Polemik und übler Nachrede", wie einige der Zeitungskommentare am Freitag meinten.

Wilfried Mommert, dpa, 27.10.06
Die Debatte im deutschen Feuilleton:
->   Süddeutsche Zeitung: Verleumdung wider besseres Wissen
->   FAZ: Der verschluckte Zettel
->   Die Welt: Erinnern, schlucken, durcharbeiten
->   Frankfurter Rundschau: Verschluckter Zettel
->   Tagesspiegel: Ob Herman oder Habermas
->   TAZ: Ein Zettel auf dem Weg nach Westen
->   science.ORF.at-Archiv zu Habermas
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Gesellschaft 
 

 
 Übersicht: Alle ORF-Angebote auf einen Blick
01.01.2010