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Gen-Defekt eliminiert Schmerzempfinden  
  Britische Forscher haben in Pakistan sechs Kinder entdeckt, denen das natürliche Schmerzempfinden völlig fehlt. Sie nehmen zwar Verletzungen wahr, empfinden diese aber nicht als unangenehm. Ursache des äußerst seltenen Phänomens sind einige Mutationen auf Chromosom Nr. 2.  
Das von den Mutationen betroffene Gen stellt einen Ionenkanal her, der offenbar für die Weiterleitung von Schmerzreizen unerlässlich ist, berichtet ein Team um Geoffrey Woods vom Cambridge Institute for Medical Research.
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Die Studie "An SCN9A channelopathy causes congenital inability to experience pain" von James J. Cox et al. ist in "Nature" (Bd. 444, S. 894; Ausgabe vom 14.12.06) erschienen.
->   Abstract in Nature
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Ein Leben ohne Schmerz
Er führte seine bizarren Kunststücke auf den Straßen vor, fügte sich selbst Wunden zu, bohrte sich Messer in die Arme und lief über glühende Kohlen. Soweit wäre der Fall eines pakistanischen Jugendlichen nichts Ungewöhnliches. Straßenkünstler gibt es in Pakistan viele - und nicht wenige davon nutzen Aberglauben und Sensationslust des Publikums dazu, sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Aber dieser eine war anders als die anderen Fakire und Artisten: Er kannte tatsächlich keine Schmerzen, er wusste einfach nicht, wie sich das anfühlt. Kurz vor seinem 14. Geburtstag wagte der Junge, dessen Name nicht bekannt ist, ein besonders gefährliches Kunststück: Er sprang von einem Hausdach.

Die Verletzungen, die er dabei erlitt, dürfte er ebenso wenig gespürt haben, wie alle anderen, die er sich im Lauf seines Lebens zugefügt hatte. Aber diesmal waren sie tödlich.
Lahm gelegtes Alarmsystem
Für Geoffrey Woods vom Cambridge Institute for Medical Research war dieser traurige Fall der Anlass, nach den physischen Gründen des eigenartigen Phänomens zu suchen.

An sich kein einfaches Unterfangen: Menschen, die keinerlei Schmerzen empfinden, sind extrem selten, denn Schmerz ist ein natürliches, letztlich lebensnotwendiges Alarmsignal des Körpers, um Gewebeschäden gering zu halten.

Woods und seine Mitarbeiter wurden dennoch fündig: Im Norden Pakistans entdeckten sie sechs weitere Kinder zwischen sechs und 14 Jahren, die keinerlei körperliches Leid fühlen, für die "Schmerz" letztlich ein Wort ohne Bezug zur Empfindungswelt ist.

Das Phänomen tritt zwar regional gehäuft auf - die drei Familien, aus denen die Kinder stammen, gehören alle zum so genannten Qureshi-birdari-Clan. Die Eltern und restlichen Familienmitglieder weisen allerdings keine Defekte bei der Schmerzwahrnehmung auf.
Verletzungen am ganzen Körper
Wie die britischen Forscher in ihrer Arbeit schreiben, hat die Unfähigkeit Schmerzen zu empfinden, bei den Kindern deutliche Spuren hinterlassen. Sie weisen blaue Flecken und schlecht verheilte Brüche auf, haben Verletzungen an Lippen und Zungen. Zwei der sechs Kinder fehlt gar ein Drittel des Organs - sie bissen sich die Zungenspitze offenbar während der ersten Lebensjahre ab.

Interessanterweise zeigen sie sonst keinerlei körperliche Einschränkungen. Temperatur- und Tastsinn sind normal, auch die Wahrnehmung der Körperhaltung funktioniert uneingeschränkt.

Kleines Detail am Rande: Woods und seine Kollegen beobachteten die Kinder auch beim Fußballspiel und stellten fest, dass die älteren ihre gesunden Spielkameraden imitierten, sofern sie gefoult wurden. Sie wanden sich in guter Fußballermanier mit schmerzverzerrtem Gesicht, auch wenn ihnen die innere Empfindung dafür fehlte.
Ursache: Gendefekt
Genetische Analysen zeigen, dass der Defekt eine äußerst simple Ursache hat: Die Kinder weisen drei Mutationen in einem Gen namens "SCN9A" auf, das für die Herstellung eines Ionenkanals zuständig ist. Ionenkanäle sind Proteine, die in der Membran von Neuronen und anderen Zelltypen sitzen und unter bestimmten Bedingungen geladene Atome in das Zellinnere oder die Umgebung der Zelle strömen lassen.

Im Fall des mutierten Kanals "Nav1.7" ist diese Reaktion notwendig, um Schmerzreize von der Sinnesperipherie zu verstärken und zum Gehirn zu leiten - "it sets the gain on the pain" heißt es dazu recht eingängig in einem Begleitartikel in "Nature" (444, 831). Doch bei den betroffenen Kindern ist diese Funktion offenbar lahm gelegt: Der Ionenkanal öffnet sich nicht.
Ansatzpunkt für neue Medikamente
Nachdem die Erzeugung und Weiterleitung von Schmerz auf äußerst vielfältige Weisen vor sich gehen kann, war diese Entdeckung ziemlich überraschend. An sich wäre zu erwarten gewesen, dass andere Kanaltypen die Weiterleitung von Signalen zumindest teilweise übernehmen und somit einen Totalausfall des Systems verhindern.

Aber wie es der Zufall will, hat die Mutation offenbar einen neuralgischen Punkt getroffen. Dementsprechend große Hoffnungen werden nun in die Entdeckung gesetzt: "Die Arbeit von Geoff Woods und seinem Team ermöglicht einen aufregenden neuen Ansatz für die Entwicklung von Schmerzmitteln. Das ist womöglich ähnlich wichtig wie die Entdeckung der Morphin-Rezeptoren", meint etwa John Wood vom University College in London.

Und fügt an: "Es ist faszinierend, dass dasselbe Gen bei bestimmten Mutationen auch hyperaktiv werden kann. Und Personen, die davon betroffen sind, leiden unter einer erblichen Überempfindlichkeit gegenüber Schmerz."
Ein Rätsel bleibt
Tatsächlich scheinen die Puzzlesteine überraschend einfach zueinander zu passen. Menschen, die an der so genannten Erythromelalgie leiden, empfinden milde Wärme bereits als brennenden Schmerz.

Die Ursache dafür ist ebenfalls eine Mutation in Nav1.7. Sie löst folgerichtig keine Blockade, sondern eine Überaktivität des Kanals aus, wie Stephen G. Waxman von der Yale University bereits vor zwei Jahren herausgefunden hat (Journal of Neuroscience 24, 8232).

Ein Detail bereitet den Forschern dennoch Kopfzerbrechen. Der bereffende Ionenkanal findet sich nämlich nicht nur in Schmerz leitenden Ganglien, sondern auch in anderen Knoten des vegetativen Nervensystems. Daher hätte man erwartet, dass die sechs Kinder auch in anderer Hinsicht beeinträchtigt sind. Aber sie sind völlig gesund. Warum das so ist, müssen Woods und Kollegen erst herausfinden.

Robert Czepel, science.ORF.at, 14.12.06
->   Geoff Woods - Cambridge Institute for Medical Research
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01.01.2010