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Roma und Sinti: Vernichtung schon 1933 angedacht  
  Mit dem Begriff "Porajmos" - wörtlich übersetzt bedeutet das "Verschlingen" - beschreiben die ziganischen Völker den gegen sie gerichteten Massenmord durch die Nationalsozialisten. In Österreich fanden 1938 und 1939 die größten Verhaftungswellen gegen "arbeitsfähige" Roma, Sinti und Jenische statt.  
Vorboten der Vernichtung
Vorboten dafür gab es schon lange vorher. Im Jänner 1933 wurden bei einem Zusammentreffen von Bürgermeistern, Vertretern der Landesregierung und Gerichtsbeamten in Oberwart Roma und Sinti zur "verwerflichen Rasse" erklärt: "Da wurde besprochen, was 'mit den Zigeunern zu tun' sei und es werden Phantasien entwickelt, sie nach Madagaskar zu deportieren.

Aber es wird auch der Vorschlag gemacht, sie alle umzubringen - das alles noch unter demokratischen Verhältnissen", sagt der Zeithistoriker Florian Freund, Lektor an den Universitäten Wien und Klagenfurt, sowie Mitarbeiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes.
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Florian Freund hielt bei der Holocaust-Studies-Tagung "Arbeit und Vernichtung", die Ende Juni 2007 in Wien stattgefunden hat, einen Vortrag zum Thema "Roma, Sinti, 'Zigeuner': Ausgrenzung, Zwangsarbeit und Vernichtung".
->   Der Vortrag als Video
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Kriminelle Gene und Asozialität
Stigmatisierung, bürokratische Schikanen, verwehrte Sozialhilfe. Damit hatten die - großteils im Burgenland ansässigen - Roma und Sinti bis zur Machtübernahme Hitlers in Österreich zu kämpfen. Zunächst in Deutschland und dann Österreich wird von den NS-Behörden die Idee der "vorbeugenden Verbrechensbekämpfung" implementiert.

Dafür bediente man seit dem 18. bzw. 19 Jahrhundert existierende Vorurteile gegenüber Zigeunern, die NS-Wissenschaft unterstützt das tatkräftig mit wirren Theorien. Etwa der, dass Kriminalität und asoziales Verhalten vererbbar seien, sagt Florian Freund: "Federführend war dabei der Robert Ritter, der mittels der Kriminalbiologie vorhersagen wollte, welche Menschen kriminell werden würden, indem er die Herkunft von Personen untersuchte." Die Zigeuner waren eine besondere Zielgruppe Ritters, die es aus dem 'Volkskörper' zu entfernen galt - sei es durch Massensterilisierung oder Mord.
->   Mehr über Robert Ritter (Wikipedia)
Deportation in "Zigeunerlager"
Nach der Machtübernahme Hitlers in Österreich ändert sich die Situation für die großteils im Burgenland ansässigen Roma und Sinti schlagartig. Auf die rigorose Verfolgung durch die Kriminalpolizei folgt die Deportation in die von den Nazis errichteten "Zigeunerlager".

"Das größte und wohl bekannteste befand sich im burgenländischen Lackenbach, dazu kommt das Lager Maxglan in Salzburg, eines in Oberösterreich und acht kleinere Männerlager in der Steiermark. Das waren alles Zwangsarbeitslager", so Florian Freund.
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Das Lager Lackenbach
Das "Zigeuner-Anhaltelager Lackenbach" wurde Ende 1940 auf dem Grund eines ehemaligen esterhazyschen Gutshofes im heutigen Burgenland eingerichtet und unterstand der Kriminalpolizeileitstelle Wien. Die größte Zahl an Häftlingen, nämlich 2335 Personen, war dort im Herbst 1941 inhaftiert, großteils waren es Burgenland-Roma. Die Inhaftierten wurden im Straßenbau eingesetzt, zur Flussregulierung oder in der Landwirtschaft. Bis zu elf Stunden täglich wurde gearbeitet, nur rund ein Zehntel des Lohns wurde ihnen ausbezahlt.
->   Details zum Lager Lackenbach (Shoa.de)
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Nur 1.500 Menschen überlebten
Den Schätzungen der Nationalsozialisten zufolge gab es Ende der 30er Jahre insgesamt 11.000 österreichische Roma und Sinti. Nur 1.500 von ihnen überlebten die Verfolgung während des Zweiten Weltkriegs, schätzt Florian Freund. Denn die Deportation in die Zwangsarbeitslager war nur als vorübergehende Maßnahme gedacht.

Die "völlige Entfernung der ziganischen Volksgruppen" war fixe Idee. Das entsprach auch den Vorstellungen der Kriminalbiologie und des Reichskriminalamtes über "vorbeugende Verbrechensbekämpfung".
Schwierige Erfassung der Opfer
Florian Freund: "Im November 1941 werden fünftausend Roma und Sinti nach Lodz deportiert, damals Litzmannstadt genannt. Innerhalb von zwei Monaten starben 860 an Fleckfieber, alle anderen wurden im Vernichtungslager Kulmhof bis Ende Jänner 1942 ermordet." Die Hälfte davon waren Kinder - Menschen, deren Arbeitskraft man kaum ökonomisch nutzen konnte.

Über die Zeit im Lager ist wenig bekannt: Es gibt keine Überlebenden und die Aktenbestände sind dürftig - was auch die namentliche Erfassung der Opfer erschwert.
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Das Lager Lodz
Das deutsche Ghetto Litzmannstatt im polnischen Lodz war zunächst eines der größeren jüdischen Ghettos auf polnischem Boden. Die 5007 österreichischen Roma, zur Hälfte noch Kinder, waren in einem separaten Teil des Lagers inhaftiert - die Fleckfieberepidemie und die Massenhinrichtungen im Lager hat keiner von ihnen überlebt.
->   Mehr über das Lager Lodz (Shoa.de)
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Todeslager mit Hunger und Epidemien
Die in den Zwangsarbeitslagern auf österreichischem Boden verbliebenen Roma und Sinti wurden nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo 1943 von den Nazis das als solches bezeichnete "Familienlager für Zigeuner" errichtet wurde.

Tatsächlich handelte es sich um Todeslager, wo Hunger und Epidemien wüteten. "Nach Auschwitz wurden zwischen 2.600 und 2.800 österreichische Roma und Sinti deportiert", schätzt Florian Freund.

Wer den Transporten zum Opfer fiel, wurde in Zusammenarbeit mit Landräten und lokalen Behörden bestimmt. Nur die Wenigsten dürften überlebt haben: "In den ersten drei Augusttagen wurden diejenigen, die damals noch gelebt haben, in die Gaskammern geschickt. Und zwar um Platz für die Vernichtung der aus Ungarn deportierten Juden zu machen."

Tanja Malle, Ö1 Wissenschaft, 6.7.07
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Literaturtipps
Gerhard Baumgartner/Florian Freund/Harald Greifeneder: Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti. Wien: Oldenburgverlag 2004

Florian Freund: Der polizeilich-administrative Zigeunerbegriff. Ein Beitrag zur Klärung des Begriffes "Zigeuner", in: Zeitgeschichte 2/2003, S. 76-90
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->   Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma
->   Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (VWI)
Mehr zum Stichwort Holocaust in science.ORF.at:
->   Interview-Projekt mit Shoah-Überlebenden (12.9.06)
->   Holocaust: Zwei Erinnerungskulturen in Europa? (H. Uhl, 21.4.06)
->   27. Jänner: Tag des Gedenkens an Holocaust (H. Uhl, 27.1.06)
 
 
 
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01.01.2010