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Migration führt zu "hybrider" Gesellschaft  
  Homi Bhabha, in Indien geboren und derzeit an der Harvard University, ist einer der wichtigsten Migrationstheoretiker der Gegenwart. Moderne Gesellschaften sind ihm zufolge "hybrid" - Angehörige der Mehrheit befinden sich im stetigen Konflikt mit Migranten und anderen Vertretern von Minderheiten. Auf dem Spiel stehen die zentralen Autoritäten und Werte der Gesellschaft.  
Bei den dabei ablaufenden "Verhandlungen" entstehen ständig neue Bedeutungen, bei der sich niemand vollständig durchsetzt, unterstreicht Bhabha in einem science.ORF.at-Interview.

Darin charakterisiert er die Gegenwart auch als grundlegend ambivalent: Migranten sind längst schon Teil von "uns", ob "wir" das gut finden oder nicht.
Bild: Jon Chase/Harvard University
Homi Bhabha
science.ORF.at: Es scheint überall auf der Welt gleich zu sein: Auf der einen Seite wächst die Hybridität der Gesellschaft, auf der anderen Seite auch die Sehnsucht nach Identität. In Österreich z.B. essen viele Leute gerne Kebab, aber sie mögen die Türken nicht, die ihn verkaufen. Was würden sie diesen Menschen antworten?

Homi Bhabha: Das war immer so: Menschen mögen Produkte wie Kebab. Aber sie denken nicht an die Umstände, unter denen diese Produkte entstehen. Das hat im Kapitalismus eine lange Tradition und ist unter dem Namen "Verdinglichung" bekannt. Man mag die Dinge, aber denkt nicht an den Kontext. Das ist nichts, was mit Migration neu auftaucht.

Um provokant zu sein: Es gibt natürlich einen Unterschied zwischen dem Kauf eines Produkts, für das man Geschmack empfindet - wie den Kebab -, und etwa dem Umstand, neben jemandem zu wohnen. Aber zur Substanz Ihrer Frage: Der Gegensatz, den Sie zwischen Hybridität und Identität gezogen haben, ist nicht so klar.
Können Sie den Begriff der Hybridität kurz erklären?

Hybridität wird oft verstanden als eine Welt, in der immer pluralistischere Methoden des Ausdrucks existieren, Menschen sprechen mehrere Sprachen, fahren auf Urlaub nach Bali, haben multiple Identitäten etc. Das ist aber nicht das, was ich unter Hybridität verstehe.

Meine Idee war: Die gesamte Kultur ist rund um Verhandlungen und Konflikte konstruiert. In allen kulturellen Praxen gibt es den - manchmal guten, manchmal schlechten - Versuch, Autorität zu etablieren. Selbst bei einem klassischen Kunstwerk, wie einem Gemälde von Breughel oder einem Musikstück von Beethoven, geht es um die Etablierung kultureller Autorität.

Nun stellt sich die Frage: Wie funktioniert man als Handelnder, wenn der eigene Sinn zu handeln eingeschränkt ist, etwa weil man ausgeschlossen ist und unterdrückt wird? Ich denke, selbst in dieser Position des Underdogs gibt es Möglichkeiten, die auferlegten kulturellen Autoritäten umzudrehen, einiges davon anzunehmen, anderes abzulehnen.

Dadurch werden die Symbole der Autorität hybridisiert und etwas Eigenes daraus gemacht. Hybridisierung heißt für mich nicht einfach Vermischen, sondern strategische und selektive Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet sind.
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Homi K. Bhabha ist einer der wichtigsten Literaturtheoretiker der Gegenwart und zählt neben Edwards Said und Stuart Hall zu den bedeutendsten Vertretern der "Postcolonial Studies". Der in Mumbai/Indien geborene Wissenschaftler hat derzeit den "Anne F. Rothenberg Lehrstuhl" an der Harvard University inne, wo er auch Direktor des "Humanities Center" ist.
->   Homi Bhabha (Harvard University)
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Zurück zur Eingangsfrage: Wenn man nur zwei Minuten Zeit hat, um den Kebabliebhabern und Türkenhassern in einer Person etwas zu entgegnen, was könnte das sein?

Das ist kein Problem, das man in zwei Minuten lösen kann, sorry. Ich z.B. mag Weißwürste: Wenn der Mann, der sie mir verkauft, ein Faschist ist, muss ich ihn deshalb aber nicht mögen. Man wird das Problem also nicht damit lösen, indem man die Zuneigung zu Türken und ihrem Kebab verordnet.

Aber ich weiß, was Sie meinen: Politiker haben ebenfalls oft keine Zeit, sie produzieren eine Studie nach der anderen, über die multikulturelle Gesellschaft, über neue Formen des Pluralismus etc. Das ist aber sinnlos, weil sie die eben geschilderte Situation nicht richtig einschätzen.

Viele der Zugewanderten leben gerne zusammen, einerseits weil sie sich so sicherer fühlen, andererseits weil sie die Umgebung, aus der sie kommen, gerne bewahren möchten. In New York etwa gibt es ganze Dörfer, die aus Mexiko stammen und ihre Traditionen weiter pflegen, die haben keine Lust etwa auf Jamaikaner als Nachbarn. Die Politik will sehr oft schnelle Lösungen, aber das funktioniert bei diesem Thema nicht.
Eine schnelle und einfache Lösung gibt es doch, wie sie v.a. von rechtsgerichteten Parteien bevorzugt wird: Die Menschen wieder dorthin zu schicken, wo sie herkommen, und die Nationalstaaten wieder zu stärken. Was ist Ihre Antwort auf diesen "Ansatz"?

Dass das nicht das Problem löst, denn die Menschen wollen ja auch weiter Kebab essen. Im Ernst: Die Entwicklung ist schon so weit fortgeschritten, dass man durch Rausschmeißen von Menschen nichts erreichen kann.

Migranten werden gebraucht. Sie sind zwar sehr oft in der Minderheit, aber sie stehen nicht am Rand der Gesellschaft. Sie leben mitten unter uns, sind Bestandteil unseres Alltags, machen unsere Hausarbeit, befinden sich oft genauso nahe zu uns wie unsere Verwandten, in unseren Wohnungen. Selbst wenn wir sie politisch als ein "sie" begreifen, sind sie keine "sie", sondern ein Teil von "uns".
Sie beschreiben die Staatenlosen und Migranten als das neue Subjekt des Internationalismus, glauben Sie, dass es sich dabei um ein politisches Subjekt handelt, das die Welt verändert?

Migranten haben die Welt immer geprägt, Staatenlosigkeit ist aber eine andere Sache. Moderne Nationalstaaten haben einen Sinn geschaffen für soziale Zugehörigkeit. Wenn man nicht als Staatsbürger zu etwas gehört, dann ist man "nackt", wie es Hannah Arendt ausgedrückt hat. Dieser seltsame Zustand der Staatenlosigkeit verweist auf zwei Prozesse.

Der erste hat im frühen 18. Jahrhundert mit der Bildung der Nationalstaaten begonnen. Hier wurden einerseits Staatsbürgerrechte und Nationsgefühl entwickelt, und andererseits - in Afrika und Asien - die Kolonien gegründet. Die Moderne hat zur gleichen Zeit zwei Menschentypen erzeugt: Staatsbürger in den Mutterländern und Kolonisierte in den Kolonien.

Der zweite Prozess: Es gibt heute eine Tendenz, sich zu Minderheiten zu bekennen, auch wenn man kein Migrant ist und nicht diskriminiert wird. Viele beziehen ihre Identität nicht in erster Linie über die Nation, sondern über Interessen: Umweltaktivisten, Frauenrechtlerinnen, AIDS-Hilfe usw. Man kann das als positive, freiwillige Minorisierung bezeichnen. Diese neuen Formen der Identitätsbildung, betreiben natürlich eher die Privilegierten als die Migranten. Sie haben aber eines gemein: Beide stellen die Position der Mehrheit in Frage.
Sie waren vor kurzem in Davos, wo Sie an einer Diskussion über Avatare und multiple Identitäten im Internet gesprochen haben. Sind diese virtuellen Geschöpfe ein weiterer Ausdruck der Hybridisierung unserer Gesellschaft?

Das war eine amüsante Erfahrung. Ich hatte bis dahin keine Ahnung von "Second Life", dachte dass es sich um eine Art Wiederbelebungsmaßnahme im Spital handelt. Für das Panel habe ich mich aber natürlich vorbereitet und alles gelesen, was ich über die Online-Simulation finden konnte. Mit mir saßen die wichtigsten Menschen aus dem IT-Bereich auf dem Podium, von Sun und Google, dazu Forscher, Unternehmer und der Reuters-Korrespondent von SL. Als Literaturwissenschaftler war ich da am Anfang ziemlich nervös.

Es wurde dann Second Life präsentiert, die Avatare, die Linden-Dollars, mit denen man Häuser bauen kann und andere Dinge kaufen. Das einzige, was ich mir gedacht habe: Und was ist daran bitte neu? Künstler und Schriftsteller haben das immer schon gemacht: Dinge zu animieren, die zwischen Phantasie und Realität liegen - das ist genau der Ort, wo sich auch viele Kunstwerke befinden. Warum soll das also - außer technisch - innovativ sein?

Ich halte das für eine Wiederholung von etwas, das es bereits gegeben hat. Aber: Wenn die Dinge zurückkommen, tun sie das nie in der gleichen Form, sie führen einen immer auf einen neuen Weg. Das ist bei allen Erfindungen so, gleichgültig ob in der Technik oder in der Kunst.
Second Life hat also nicht viel gemein mit Ihrem Begriff des "Third Space"?

Nein. Soweit ich Second Life einschätze, handelt es sich dabei um eine Art Ersatzleben, das aber nicht transformativ wirkt. Bei "Third Space" geht es um Transformationen in gesellschaftliche Verhandlungen. D.h. Menschen kommen mit unterschiedlichen Einstellungen zusammen und streiten miteinander um Bedeutungen. Dabei entstehen neue Freiräume.

Sie mögen die meisten Karten in der Hand haben und ich nur einige wenige. Sobald wir anfangen zu spielen, kann es sein, dass ich das Ass bekomme. Auf dieser Ebene, den ich den "Third Space" genannt habe, können Positionen der Autorität gewechselt werden.

Der Begriff war nicht als Alternative zur Welt gedacht, sondern als ein Raum in ihr. Darin werden Verhandlungen geführt, in all seinen Ungleichheiten und Asymmetrien, um ein gerechteres Szenario zu konstruieren.
Sie machen viele Interviews. Geht Ihnen bei all diesen Fragen eine ab, die Sie noch nie gestellt bekommen haben?

Gute Frage. Interviews sind dialogische Prozesse, selbst wenn sie die gleichen Fragen stellen, sind die Zusammenhänge immer andere, wird das nie in gleicher Weise geschehen. Wenn ein Interview wirklich produktiv ist, befindet man sich immer im "Third Space", irgendwo zwischen der Frage und der Annahme, dass man sie auf eine Art beantwortet, aber in Wirklichkeit ganz anders beantwortet. Das Fundament verändert sich während eines Interviews.

Wir spielen hier also Karten?

Ja, und das macht es auch für Dritte interessant, wie ich hoffe.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 9.11.07
->   Der Begriff der Hybridität (parapluie)
->   Homi Bhabha (Wikipedia)
->   Homi Bhabha in der Harvard Gazette
->   Getting a Second Life in Davos (CNN)
 
 
 
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01.01.2010