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Die Perversion der Jugendfürsorge im NS-Regime  
  Kind oder Jugendlicher in der Zeit des Nationalsozialismus zu sein bedeutete, mit vielfältigen Formen offener und versteckter Gewalt aufzuwachsen. Einordnung und Unterordnung waren die leitenden Prinzipien von Erziehungsarbeit. Wer nicht in das System passte oder sich nicht einfügen wollte, dessen nahm sich das Fürsorgesystem an.  
Fürsorge verstand sich aber nicht als Hilfe für junge Menschen. Vielmehr wurde Einrichtungen wie den Jugendämtern die Rolle der Obsorge für die "Volksgesundheit" zugeschrieben. "Asoziales Verhalten" und "geschädigtes Erbgut" sollten möglichst früh erkannt werden, damit sie nicht zur Bedrohung für den Rest der Gesellschaft werden.

Ein neues Buch schildert akribisch, durch viele Fallbeispiele aber dennoch spannend, wie Kinder und Jugendliche zum Opfer der NS-Sozialverwaltung wurden.
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Das Buch "Verfolgte Kindheit. Kinder und Jugendliche als Opfer der NS-Sozialverwaltung" wurde von Ernst Berger, Leiter der Abteilung für Jugendpsychiatrie der Psychosozialen Dienste in Wien, herausgegeben und ist im Böhlau-Verlag erschienen. Am 7. Dezember 2007 wird es im Parlament präsentiert.
->   Zum Buch (Böhlau-Verlag)
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"Schwarze Fürsorge" des Nationalsozialismus
Schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und Österreich machte sich die entsprechende Ideologie in der Fürsorge bemerkbar: Die Vererbbarkeit von "Verwahrlosung" wurde postuliert, Fürsorge für "Verwahrloste" sollte eingeschränkt und statt dessen die "Gesunden" gefördert werden.

Die "schwarze Fürsorge" des Nationalsozialismus, wie sie der Historiker Peter Malina in seinem Beitrag bezeichnet, konnte auf dieser Gesinnung aufsetzen und das System der "Aussonderung unwerten Lebens" auch auf Kinder und Jugendliche ausdehnen.
Abweichendes Verhalten festschreiben
Fürsorgerinnen - auf der untersten Ebene waren es Frauen, in leitenden Positionen der Verwaltung Männer - waren "im Netz der sozialen Kontrolle eine wesentliche, vielfach die erste Instanz, die abweichendes Verhalten amtlich registrierte, in den Akten festhielt und damit die oft entscheidende Grundlage für die weitere Ausgrenzung legte", schreibt Malina.
Fürsorge Teil der Jagd nach "Erbkranken"
In Österreich wurde in den ersten Jahren nach dem Anschluss an Hitler-Deutschland der Fürsorgeapparat reorganisiert: Die Jugendwohlfahrt wurde den Gemeinden übertragen, um möglichst kleinteilige Einheiten zu schaffen, die die örtlichen Gegebenheiten gut kennen.

1940 wurde auch in der "Ostmark" das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchs" in Kraft gesetzt - "und damit auch die Fürsorge- und Gesundheitsbehörden verpflichtend in die Jagd nach 'Erbkranken' eingebunden", so Malina.
Die Kinderübernahmestelle der Stadt Wien
 
Bild: Magistrat der Stadt Wien, entnommen dem Buch

Das Bild zeigt einen Ausschnitt der Kinderübernahmestelle im 9. Bezirk. Hier wurden von Säuglingen bis zu Jugendlichen alle aufgenommen, die nach gründlicher Untersuchung in ein Erziehungsheim weitergeleitet werden sollten.
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Erfassung am Beispiel Wien
In Wien wurden ab dem 1. Juli 1939 alle Neugeborenen in einer Säuglingskartei erfasst. Die Hebammen erhielten ein neues Formblatt für Geburtsanzeigen, in dem die "Erb- und Gesundheitspflege" berücksichtigt wurde. Ältere Kinder mussten an fünf Untersuchungen in den Gesundheitsämtern teilnehmen und "Abweichungen von der Norm" im "Jugendgesundheitsbogen" festgehalten. Die Wiener Zentralkartei, in der alle Informationen über Auffälligkeiten zusammenfließen sollten, waren im März 1944 bereits 770.000 Personen erfasst.
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Engmaschiges Netz der Kontrolle
Das Netz, mit dem "unbrauchbare Volksgenossen" möglichst jung vom Rest der "gesunden" Gesellschaft entfernt werden sollten, war engmaschig: Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, Fürsorgerinnen, Beamte sowie Lehrerinnen und Lehrer wirkten mit.

Wie grundlegend das System der Fürsorge pervertiert wurde, zeigt die neue Rolle, die die Sonderschulen zugewiesen bekamen und viele auch bereitwillig annahmen.
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Die Rolle von Sonderschulen
"Sonderschulen und Erziehungsheime wurden zu Instrumenten der 'Auslese' und zum Ort der 'Verwahrung' jener, die den 'Normalen' beim Leben und Tüchtigsein im Weg standen", beschreibt der Historiker Malina. Viele Lehrerinnen und Lehrer der damals "Hilfsschulen" genannten Einrichtungen waren mit der neuen Rolle einverstanden und erklärten sich - wie eine Sonderschule in Klagenfurt - gerne bereit, "an der für die Volksgesundheit so wichtigen Erbauslese" mitzuwirken. Geendet hat dies oft mit der Denunziation zur Sterilisierung.
->   Examensarbeit "Die Hilfsschule im Nationalsozialismus"
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Bewertung des Sonderschülers Rudolf H.
 
Bild: MA 11, entnommen dem Buch

Im Bild ist eine Beschreibung des körperlichen und psychischen Zustands des Sonderschülers Rudolf H. zu sehen - verfasst von Heinrich Groß (Abteilungsarzt am Spiegelgrund) für das Jugendamt des 10. Bezirks. Er empfiehlt die Einweisung in die Kleinkinderabteilung am Spiegelgrund, wo Kinder für medizinische Experimente gequält und getötet wurden.
Letzte Konsequenz: Überstellung in ein Lager
Letzte Konsequenz des Fernhaltens von "schwer bis nicht-erziehbaren" Kinder und Jugendlichen vom Rest der Gesellschaft war die Einweisung in ein "Jugendschutzlager", so die NS-Diktion. In das Konzentrationslager Uckermark wurden Mädchen, nach Mohringen wurden Burschen überstellt, die "Verwahrlosungserscheinungen" aufwiesen: Das konnten kriminelle Delikte ebenso sein wie Ungehorsam den Eltern gegenüber oder schlicht das Elternhaus (mit jüdischen oder etwa slowenischen Wurzeln).

In den Lagern sollte "Erziehungsarbeit" geleistet werden: Damit gemeint waren schwere Arbeit, Drangsalen, Quälereien bis hin zur Folter bei psychischen und körperlichen Leiden und harte Strafen bei Vergehen.
Uckermark und Moringen
Die Lager Uckermark und Moringen galten bis in die 1960er Jahre als positive Beispiele des Fürsorgesystems, stellt die Historikerin Regina Fritz in ihrem Beitrag fest.

Erst in den 70er Jahren wurden sie als Konzentrationslager anerkannt - ein typisches Beispiel für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen als Opfer des NS-Systems und die Kontinuität, die die "schwarze Pädagogik" des Nationalsozialismus erlebte.
Bis heute keine Entschädigung
Die Insassen von Uckermark und Moringen haben in Österreich noch immer keine Entschädigung erhalten, wie das Buch "Verfolgte Jugend" eindringlich dokumentiert: Bis heute müssen diese Menschen, die teilweise auch nach dem Krieg von der Fürsorge betreut wurden und Sozialleistungen bezogen, mit dem Stigma asozialen Verhaltens und der daher rechtmäßigen Internierung leben.

Das Buch schließt eine Lücke in der Aufarbeitung der NS-Zeit und ist trotz seiner sehr wissenschaftlichen Anmutung eine spannende Lektüre zu einem System, das die Indoktrination und "Aussonderung" von Kindern und Jugendlichen als grundlegendes Element verstand.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 7.12.07
->   Peter Malina (Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien)
->   Regina Fritz (Boltzmann-Institut für Historische Sozialwissenschaft)
->   Wiener Psychiatrie und NS-Verbrechen (Wolfgang Neugebauer, DÖW)
->   Mädchenkonzentrationslager Uckermark
->   KZ-Gedenkstätte Moringen
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->   "Nature" unter Hitler: Die Geschichte eines Verbots (22.10.07)
->   Neue Studien über NS-Zeit in Oberösterreich (17.10.07)
->   Juliputsch 1934: Lavanttaler Nazis am "erfolgreichsten" (24.7.07)
 
 
 
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01.01.2010