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Fremdenfeindlichkeit: Kultur dient als Deckmantel  
  "Islam-Bashing bringt nichts", sagt die in Amsterdam forschende Exil-Iranerin Halleh Ghorashi. Die in Europa momentan dominierende Diskussion über die kulturellen Unterschiede zwischen Mitteleuropäern und muslimischen Immigranten hält sie für kontraproduktiv. Vielmehr müsse man sehen, dass sich unter dem Deckmantel der Kultur der alte Rassismus versteckt: Aus der Unterschiedlichkeit der Menschen werden unüberwindbare Hürden konstruiert.  
Migranten immer wieder in Sprachkurse zu stecken, bringe nichts, so die Ethnologin mit Schwerpunkt Diversitätsmanagement im Gespräch mit science.ORF.at. Stattdessen müsse man besonders bei der zweiten Generation die Potenziale ansprechen, damit sie sich nicht aus unbefriedigtem Ehrgeiz wieder dem Islam zuwenden.
Bild: science.ORF.at
Halleh Ghorashi
science.ORF.at: Minarette "sind nicht Teil der österreichischen Kultur", sagte erst kürzlich ein österreichischer Politiker. Viele behaupten, in Österreich gebe es einen anderen "Wertekanon", als ihn muslimische Migranten mitbringen. Ist der Kulturbegriff zu einem Vehikel geworden, um fremdenfeindliche Stereotype zu transportieren?

Halleh Ghorashi: Ja, die Kultur wurde zur Basis der Exklusion. Es ist eine ausschließende Rhetorik in Europa entstanden, die darauf beruht, dass die Kultur islamischer Immigranten so weit von der europäischen Tradition entfernt ist, dass es keine Möglichkeit des Brückenschlags gibt. Der Subtext dieser Rhetorik ist, dass wir Europäer uns nicht ändern wollen. Wir sind so stolz auf unsere westliche Zivilisation, dass wir fürchten, etwas davon zu verlieren, wenn wir uns für etwas Anderes öffnen. Für die Migranten bedeutet das: Entweder sie passen sich total an, oder sie müssen gehen. Es gibt nichts Verbindendes dazwischen.
Nicht vor langer Zeit wurde gegenüber Ausländern noch anders "argumentiert". Da hieß es, dass beispielsweise "Schwarze sind von Natur aus aggressiver" seien. Diese Argumentation über die Nature von Menschen ist aus der Mode gekommen, heute betonen alle die kulturellen Unterschiede. Warum hat sich das verschoben?

Ghorashi: Die Geschichte des Rassismus in Europa hat viele Menschen sensibel für derartige Aussagen gemacht. Gerade in Westeuropa hat man gesehen, wohin die Betonung von Unterschieden zwischen "Rassen" und deren "Natur" führen kann. Die Kultur bietet einen bequemen Ausweg: Wenn wir über Unterschiede zwischen Kulturen reden, sind wir nicht rassistisch. Es geht um die Verteidigung unserer Kultur und unserer Errungenschaften als Zivilisation. Eine Parallele zwischen den beiden Diskursen sehe ich darin, dass sie beide eine Rhetorik des Ausschlusses begründen.
Was bedeutet dieser kulturalistische Diskurs für die Migranten?

Ghorashi: Wenn man die Kultur zur "Essenz" macht, auf deren Basis man Menschen beurteilt, und den Menschen es gleichzeitig abspricht, dass sie mit ihrer Tradition "ringen" und individuelle Lösungen finden, drängt man sie in die Verteidigungsposition. Natürlich ist die Kultur der Migranten ein Teil ihrer Identität, aber sie ist nichts Statisches. In der Wirklichkeit sehen wir, dass die Unterschiede zwischen einzelnen Gruppen von islamischen Einwanderern riesig sind. Es gibt unterschiedliche Generationen - die zweite Generation hadert oft heftig mit der Religion und Tradition ihrer Eltern.
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Zur Person
Halleh Ghorashi ist Professorin für Ethnologie und Inhaberin des Lehrstuhls für das Management von Diversität und Integration an der Freien Universität Amsterdam. Die geborene Iranerin, die - wie sie selbst sagt - als linke Feministin und Atheistin aus politischen Gründen ihr Heimatland verlassen musste, promovierte über die iranische Frauenbewegung. Sie war auf Einladung des "Instituts für die Wissenschaften vom Menschen" (IWM) in Wien. Eine eventuelle Kontaktaufnahme mit Halleh Ghorashi sollte in Englisch (oder Niederländisch) erfolgen.
->   Halleh Ghorashi
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Aber gerade die jüngsten Unruhen etwa in Frankreich haben gezeigt, dass die zweite Generation auch zum Extremismus neigen kann und sich von der Gesellschaft, in der ihre Eltern erfolgreich sein wollten, abwendet.

Ghorashi: In den Niederlanden wurden einige Studien zum Hintergrund dieser Extremismus-Tendenzen durchgeführt. Es zeigte sich, dass die gefährdeten Migranten in den meisten Fällen nicht marginalisiert und ohne Bildung sind, sondern im Gegenteil: Oft handelt es sich dabei um gut integrierte Menschen, manche sogar mit Universitätsabschluss.

Angehörige der zweiten und dritten Generation sind oft extrem ehrgeizig, sie wollen um jeden Preis erfolgreich sein. Von der Gesellschaft bekommen sie aber ständig vermittelt, dass ihnen trotz all ihrer Errungenschaften noch immer etwas fehlt: ein bisschen Sprachgefühl, um perfekt zu sein, ein soziales Netzwerk, das sie trägt. Dieses Wollen, aber letztlich nicht Können, frustriert und führt dazu, dass manche sich zur Identitätsbildung wieder dem Islam zuwenden. Diese Entscheidung erfolgt dann aus freiem Willen und auf Basis einer hohen Bildung - gerade deshalb wird sie oft als so befreiend empfunden.
Wenn ein Politiker zu Ihnen kommt und einen Ratschlag haben möchte, wie man mit Integrationsfragen umgehen sollte, was würden Sie ihm sagen?

Ghorashi: Zuerst einmal sollten wir diese Identitätskämpfe von Jugendlichen als etwas Positives begreifen. Sie sind hoch motiviert und wollen etwas aus sich machen. Wir müssen uns fragen: Wo sind die Stolpersteine, wo fallen sie aus dem System? Und wir müssen das, was sie mitbringen, wahrnehmen, und nicht nur ihre Mängel.

Um ein Beispiel zu nennen: Ich hatte zwei hochmotivierte Studentinnen. Die Eltern der einen - eine Niederländerin - waren beide Universitätsprofessoren. Die andere war die Tochter von Marokkanern, sie war die einzige der ganzen Familie, die es bis an die Universität geschafft hat. Die Aufsätze und Vorträge der Niederländerin waren exzellent, sie hatte ein Netzwerk um sie, das ihr bei Fragen weiterhelfen konnte. Die Studentin mit marokkanischem Hintergrund hatte diese Unterstützung nicht, sie war ganz auf sich gestellt.

Wenn ich ihre "Story" nicht gekannt hätte und - nachdem ich selbst Migrantin bin - ihre Lage nachvollziehen hätte können, hätte ich vor allem ihre Defizite gesehen: Sprachprobleme, Fehler beim Formulieren von Forschungsfragen etc. Das hätte sie innerhalb kürzester Zeit frustriert. Diese Studentin brauchte einfach eine Unterstützungsgruppe, ein Sicherheitsnetz, das über Mentoring zur Verfügung gestellt werden konnte.
In Europa herrscht große Einigkeit, dass der Islam eine frauenfeindliche Religion ist. Sie sprechen sich gegen diese Bezeichnung aus, obwohl sie sich eine Feministin und Atheistin nennen. Warum?

Ghorashi: Den Islam als besonders frauenunterdrückende Religion zu bezeichnen, ist meiner Meinung nach nicht richtig: Erstens wird in allen Religionen der Frau eine gesonderte, meist niedrigere Stellung zugeschrieben als dem Mann. Und zweitens stößt das viele gläubige Frauen ab. Anstatt sie zu ermutigen, den Islam als ihre Religion zu definieren und ihre Freiheiten zu suchen, drängt man sie mit der Forderung ins Eck, sich davon gänzlich zu distanzieren. Islam-Bashing bringt einfach nichts.

Elke Ziegler, science.ORF.at, 26.2.08
->   Halleh Ghorashi: Warum hat Ayaan Hirsi Ali unrecht?
->   Institut für die Wissenschaften vom Menschen
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01.01.2010