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Philosoph Merleau-Ponty vor 100 Jahren geboren
Der Leib zwischen Körper und Geist
 
  Maurice Merleau-Ponty war neben Jean-Paul Sartre der bekannteste Philosoph Frankreichs im 20. Jahrhundert. In seinem Werk hat er die unmittelbare Welterfahrung in den Mittelpunkt gestellt. Eine zentrale Rolle dabei spielt der "Leib" - zwischen Körper und Geist gelegen ist er für Merleau-Ponty ein Medium, das unsere Welt strukturiert und Orientierung bietet. Am Freitag, dem 14.3., wäre er 100 Jahre alt geworden.  
Mit seiner Phänomenologie hat sich Merleau-Ponty zwischen die klassischen Gegensätze seiner Zunft gesetzt. Ein paar der traditionellen Begriffspaare lauten: Leib und Seele, Empirismus und Idealismus, Subjekt und Objekt sowie Kultur und Natur.

Merleau-Ponty war stets auf der Suche nach einer dritten Dimension, die zwischen diesen Begriffspaaren liegt.
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Dem 100. Geburtstag von Maurice Merleau-Ponty widmen sich auch die Ö1-Dimensionen unter dem Titel "Ein dritter Weg: Der Leib zwischen Körper und Geist": Donnerstag, 13.3.08, 19.05, Radio Österreich 1.
->   oe1.ORF.at
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Husserls Phänomenologie angewandt
Bild: Junius Verlag
Maurice Merleau-Ponty
"Phänomenologie" hat der 1859 geborene Philosoph Edmund Husserl seine Forschungsrichtung genannt. Sein Motto lautete: "Zurück zu den Sachen selbst".

Anders als etwa der deutsche Idealismus von Immanuel Kant hat Husserl die Welt der Erscheinungen betrachtet. Und zwar so wie sie dem Menschen in der natürlichen Erfahrung gegeben sind - also noch bevor sie begrifflich gefasst werden.

Hauptaufgabe der Phänomenologie ist es demzufolge zu erforschen, wie die Gesetze dieser Erfahrung aussehen. Genau das hat auch Merleau-Ponty getan.
->   Edmund Husserl (Wikipedia)
Der Leib: Innere Instanz und Zur-Welt-Sein
Eine zentrale Rolle spielt dabei der Leib, der für Merleau-Ponty eine Verbindung von Seelischem bzw. Geistigem und Körperlichem ist.

Die philosophische Idee dahinter ist, dass es neben den Einzelsinnen, mit denen wir Licht, Geruch etc. aus der Umwelt wahrnehmen, noch einen Sinn gibt, der diese Einzelwahrnehmungen zusammensetzt.

Stephan Günzel von der Universität Potsdam: "Man hat dies früher den sechsten Sinn genannt, und Merleau-Ponty setzt nun mit Husserl den Leib an diese Stelle. Und er betont, dass es sich nicht nur um eine innere Instanz handelt, sondern selber um ein Vorkommnis in der Welt. Ein anderes Wort, das Merleau-Ponty für den Leib geprägt hat, ist das Zur-Welt-Sein."
Medium und Mittel der Erfahrung von Welt
Wenn die Phänomenologie und insbesondere Merleau-Ponty vom Leib spricht, dann beziehen sie sich nicht auf den Körper als physikalisches Phänomen, wie er von den Naturwissenschaften untersucht wird. Er ist aber auch nicht das Subjekt der klassischen Philosophie. Der Leib ist vielmehr Medium und Mittel der Erfahrung von Welt.

Die Philosophin Silvia Stoller von der Universität Wien: "Merleau-Ponty sieht den Leib als Mittel unserer Orientierung in der Welt. Er hat z.B. den Satz geprägt: 'Der Leib ist in der Welt, wie das Herz im Organismus.' Gemeint ist, dass der Leib ein Medium ist, sich in der Welt sinnhaft zu orientieren, als ein Mittel, das Leben in der Welt zu strukturieren und zu gestalten."
Beispiele: Phantomschmerzen und Perspektivität
Merleau-Ponty untersuchte diesen Leib als Medium des Zur-Welt-Seins mit Hilfe einer Reihe von Beispielen. Die Beispiele bezog er zum einen aus der zeitgenössischen Wissenschaft und so unterschiedlichen Disziplinen wie der Gestaltpsychologie, Psychopathologie und Psychoanalyse.

Zum anderen verwies er gerne auf Beispiele aus der Malerei und anderen Künsten. Phänomene wie Halluzinationen oder Phantomschmerzen, aber auch die Perspektivität des Malens dienten ihm dazu, den Leib und seine Lebenswelt zu analysieren.
Biographie: Starke Mutterbeziehung
So wie er in seiner Philosophie Differenzen und Dualismen überwinden wollte, war Maurice Jean-Jacques Merleau-Ponty auch privat kein Freund von Extremen.

Geboren wurde er am 14. März 1908 in Rochefort-sur-Mer, nahe an der Atlantikküste im Westen Frankreichs. Sein Vater war Offizier und selten zuhause, seine Mutter unterhielt jahrelang eine öffentliche Beziehung mit einem örtlichen Universitätsprofessor. Maurice ging aus dieser Verbindung hervor.

Da sein gesetzlicher Vater sehr früh stirbt, entwickelt er eine sehr innige Beziehung zu seiner Mutter, die bis zu ihrem Tod anhält. Wenn es ein biographisches Faktum gibt, das in seinem Leben hervorsticht, dann ist es diese Beziehung. Ansonsten hat Merleau-Ponty ein sehr überschaubares Leben geführt. In Frankreich, wo sich Philosophen gerne exponieren und zum Dandy-Leben neigen, ist das durchaus bemerkenswert.
Anziehendes Gegensatzpaar: Sartre und de Beauvoir
So sehr Merleau-Ponty die Öffentlichkeit gemieden hat, so wenig taten dies seine beiden Freunde Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Im persönlichen Lebensstil, aber auch in den Inhalten des Denkens unterschied er sich stark von diesem Traumpaar der Philosophie.

Auf der einen Seite der ruhige Merleau-Ponty, der von seiner Mutter brav katholisch erzogen wurde, der philosophisch und politisch immer den Ausgleich suchte und die Lehrkanzel gegenüber dem Straßenkampf bevorzugte.

Auf der anderen Seite der polternde Sartre, der die Öffentlichkeit suchte, sich mit von der Polizei gesuchten Terroristen fotografieren ließ und nach sozialistischen Idealen strebte sowie de Beauvoir, die lautstark für den Feminismus kämpfte.
Gemeinsame Zeitschrift: Moderne Zeiten
Als Frankreich von den Nazis besetzt ist, waren Merleau-Ponty und Sartre für kurze Zeit Mitglieder in einer Widerstandsgruppe. Das wichtigste gemeinsame Projekt von Merleau-Ponty und Sartre war die Gründung von "Les Temps Modernes" 1945.

Die bis heute existierende literarisch-politische Zeitschrift setzte sich damals vor allem mit dem Nationalsozialismus und mit linken Alternativen zum dogmatischen Kommunismus auseinander.

Während Sartre seine Positionen öffentlich sehr vehement vertrat, blieb Merleau-Ponty auch beim Verfassen seiner Artikel in der Zeitung im Hintergrund. Viele verfasste er anonym, obwohl er Chefredakteur war.
"Zerwürfnis" nach Polit-Streit
Als Sartre 1953 den Vorspann von Merleau-Ponty zu einem umstrittenen Artikel strich, ohne ihn zu informieren, kam es zum Zerwürfnis. Diese später vielbeschriebene Episode war aber nur der Auslöser ihrer Trennung. Entfremdet hatten sie sich schon länger, da sie den Kommunismus zunehmend unterschiedlich einschätzten.
Wehmut nach frühem Tod von Merleau-Ponty
Während sich Sartre immer mehr nach links orientierte und Reisen in die Sowjetunion und China unternahm, äußerte sich Merleau-Ponty zunehmend weniger politisch - ohne freilich seine Sympathien für den Sozialismus abzulegen.

Als Merleau-Ponty im Mai 1961 im 54. Lebensjahr überraschend stirbt, verfasste Sartre einen wehmütigen und sehr fairen Nachruf. Er beschrieb darin eine Freundschaft, die nie aufgekündigt wurde, die sich aufgrund sehr unterschiedlicher Charaktere aber auseinandergelebt hat.
Aktualität seines Werks
Mit seinem Plädoyer für einen dritten Weg ist Merleau-Ponty ein Vordenker von Strukturalismus und Poststrukturalismus, die danach in Frankreich zu den bestimmenden Denkrichtungen geworden sind. Er bleibt bis heute zudem in einer Reihe anderer Bereiche aktuell.

Etwa in der Gehirn-Geist-Diskussion, in der oft überholt geglaubte Positionen der Philosophiegeschichte wiedergekäut werden. Merleau-Pontys Leibbegriff, der sich zwischen Körper und Geist befindet, ist hier in höchstem Maße anschlussfähig an laufende Debatten.

Auch der sogenannte spatial turn - die Wende in den Kulturwissenschaften, die den Raum in den Mittelpunkt des Interesses rückt - kann sich auf Merleau-Ponty berufen.

Und auch in den Gender Studies gibt es seit den 1990er Jahren eine Renaissance von Merleau-Ponty. Sein Versuch, Dualismen und Differenzen zu überwinden, fallen hier auf besonders fruchtbaren Boden.

Lukas Wieselberg, science.ORF.at, 13.3.08
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Bücher zum Thema
Bernhard Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich, Suhrkamp 1998
Christian Bermes: Maurice Merleau-Ponty zur Einführung, Junius 2004
Stephan Günzel: Maurice Merleau-Ponty - Werk und Wirkung, Turia und Kant 2007
Gerhard Danzer: Merleau-Ponty. Ein Philosoph auf der Suche nach Sinn, Kadmos Kulturverlag 2003
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->   Leben und Werke von Merleau-Ponty (Wikipedia)
->   Merleau-Ponty in der Stanford Encyclopedia of Philosophy
->   Merleau-Ponty Circle
->   Journal Phänomenologie
->   Chiasmi International
 
 
 
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01.01.2010