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Virtuelle Schreibstuben als Chance  
  Neuen Medien bringen im Studium nicht nur neue Lösungswege, sondern auch neue Aufgaben. Für den Schreibpädagogen Otto Kruse revolutionieren Internet, Email und Co. die Textproduktion, verführen aber auch zu Plagiaten. Studenten brauchen bessere Anleitung dafür, was Scheiben als Lernart von ihnen verlangt. In virtuellen Schreibstuben sieht der Experte große Chancen.  
Schreiben an Hochschulen - Was ändert die Digitalisierung?
Von Otto Kruse

Erst zehn Jahre ist es her, dass die letzten Schreibmaschinen ausgemustert wurden, aber sie wirken schon so anachronistisch wie ein Ochsenkarren auf der Autobahn. Computer und Internet haben vom Schreiben Besitz ergriffen und prägen Schreibstrategien, Textstrukturen, Kooperations- und Publikationsformen.

Ein paar Dinge jedoch, gerade im wissenschaftlichen Schreiben, sind geblieben, was sie immer waren: Schreiben ist mit vielen Problemen und Gefühlen der Selbstunwirksamkeit verbunden. Es wird immer noch verlangt, ohne dass man es unterrichtet. Und die Produkte des Schreibens, die Texte sind immer noch so schwer verständlich wie eh und je. Mit der Digitalisierung gibt es neue Lösungswege dafür, aber auch neue Aufgaben. Ein paar davon möchte ich hier ansprechen.
Schreiben als Lernprozess
Warum machen wir den Studierenden die Mühe, selbst zu schreiben, wo sie doch das Fachwissen viel problemloser aus einen Lehrbuch entnehmen könnten? Eben genau zu dem Zweck: Dass sie Probleme haben. Sie sollen sich mit Stoff, Sprache, Denken, Methodik oder Struktur auseinandersetzen, statt nur passiv zu konsumieren.

Diese Art des Lernens ist vor etwa 200 Jahren im Rahmen der Humboldtschen Bildungsreform entstanden, als man den Studenten erstmals in Seminaren Bibliotheken zur Verfügung stellte, damit sie Originaltexte lesen und sich daraus das Wissen ihrer Disziplin selbst aneignen konnten.
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Enquete
In Kooperation mit dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (bmwf) veranstaltet die Wissenschaftsredaktion von Radio Österreich 1 am 14. Mai 2008 um 17 Uhr im RadioKulturCafe (Argentinierstraße 30a, 1040 Wien) eine Enquete zum Thema. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler disku-tieren Probleme, Möglichkeiten und Chancen der Qualitätssicherung des wissenschaftlichen Publizierens im Kontext der Digitalisierung. Der Eintritt ist frei.
->   Initiative "Sprechen Sie Wissenschaft?"
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Kritisch denken lernen
Forschendes Lernen und die Anleitung zu methodisch-kritischem Denken stehen seitdem im Zentrum des Hochschulunterrichts. Das Schreiben ist der Königsweg zu diesen Zielen - und deshalb auch mit Anforderungen und Erwartungen überfrachtet.

Was Studierende brauchen: Mehr Einsicht in den Prozess des Schreibens als eine Form der Auseinandersetzung mit Wissen und Wissenschaft, Verständnis für die einzelne Teilhandlungen und Entscheidungen, Training darin, Gedanken in Worte umzusetzen. Es geht also darum, Ressourcen für die Lösung von Schreibproblemen zur Verfügung stellen, ohne die Aufgaben selbst didaktisch zu verflachen. Kritisch denken lernt nur, wer sich mit den aktuellen Problemen des Fachs auseinandersetzt.
Teil der Wissenskommunikation
Schreiben bedeutet Bezugnahme auf eine Wissensgemeinschaft. Texte lassen sich nur verstehen, wenn man sie als Teile wissenschaftlicher Konversationen oder Diskurse betrachtet. Die Studierenden müssen lernen, dass sie auch dann, wenn sie allein im stillen Kämmerlein schreiben, in einen kollaborativen Prozess eingebunden sind. Das war vor der digitalen Revolution nicht anders als heute. Mit ihren Texten müssen sie eine Identität als Autorin oder Autor gewinnen. Damit sozialisieren sie sich selbst als Mitglieder einer Wissensgemeinschaft.

Verständlich schreiben heisst in wissenschaftlichen Kontexten zunächst, diskursgerecht zu schreiben. Was "gute" Sprache ist, bestimmt der jeweilige Kontext. Wenn Expertinnen für Expertinnen schreiben, muss das für Laien gar nicht verständlich sein, und was für Physiker geschrieben ist, muss nicht unbedingt für Juristen verständlich sein. Vor der Arbeit an der Sprache steht die Arbeit an Inhalt, Kontext und Struktur.
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Trend zum "blended learning"
Der Trend geht zum blended learning , in dem virtuelles Lernen und Präsenzunterricht miteinander verknüpft sind. Viel versprechend sind Online Writing Labs (OWL), also Portale, in denen praktische Handreichungen und normative Vorgaben für das Schreiben zur Verfügung gestellt werden wie beispielsweise das US-amerikanische OWL der Purdue University.
->   OWL - Purdue University
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"Notmaßnahme" Plagiate
Dass man dem Internet die Schuld für das sprunghafte Anwachsen von Plagiaten geben sollte, glaube ich übrigens nicht. Wohl schafft es Gelegenheit dazu. Die Ursachen aber liegen eher in den veränderten Studienbedingungen nach Bologna. Die Bearbeitungszeiten für Texte sind kürzer geworden, das Schreiben ist verpflichtender geworden.

Wer eine Arbeit annimmt, muss sie auch abgeben, sonst wird sie als ungenügend bewertet. Unter diesem Druck wird die copy-and-paste Lösung verführerisch. Wer Plagiate verhindern will, sollte nicht allein elektronische Detektive installieren, sondern auch das Schreiben besser unterrichten, damit die Studierenden nicht zu dieser Notmaßnahme greifen müssen.
Orte des Schreibens schaffen
Die internationalen Fachgesellschaften der Schreibdidaktik empfehlen den Hochschulen einhellig, einen speziellen Ort zu schaffen, der sich des Schreibens annimmt. Das Schreiben muss nicht nur lehrbar gemacht, sondern auch für alle Hochschulangehörigen besser sichtbar werden. Es sind nicht schlechte Studenten, die Schreibprobleme haben, sondern alle.

Das Schreiben ist dazu da, fachliche und sprachliche Probleme lösen zu lernen. Dafür brauchen sie Unterstützung. Schreibzentren beraten Studierende, sie transportieren die Erfahrungen daraus aber auch in die Studienfächer zurück, so dass dort die Anleitung zum Schreiben verbessert werden kann. Dabei geht es nicht um nachholenden Deutschunterricht, sondern darum zu lehren, wie man in der jeweiligen Disziplin denkt, forscht und kommuniziert.

[5.5.08]
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Über den Autor
Otto Kruse ist Professor an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Departement Angewandte Linguistik und leitet dort das Zentrum für Professionelles Schreiben. Schwerpunkte seiner Arbeit: Schreibpädagogik, wissenschaftliches und berufliches Schreiben, Wissenskommunikation, Online-Writing. Sein Bestseller "Keine Angst vor dem leeren Blatt" ist gerade in völlig überarbeiteter Auflage neu erschienen (Campus Verlag)
->   Otto Kruse
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Wie eine Hochschule das Schreiben für sich definieren kann, zeigt die Webseite der Universität Zürich unter
->   Schreiben an der Hochschule
Internationale Fachgesellschaften der Schreibdidaktik:
->   Europäische Vereinigung
->   Forum Wissenschaftliches Schreiben
->   Europäisches Schreibzentrum
->   Internationales Schreibzentrum
->   oe1.ORF.at: Online-Schreibworkshop zum Nachlesen
->   Alle Beiträge der Serie "Sprechen Sie Wissenschaft"
 
 
 
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01.01.2010