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"Europäistik": Konturen einer neuen Disziplin  
  "Europa" hat nicht nur in politischen Diskussionen längst eine konkrete Gestalt angenommen. Auch in der Wissenschaft meinen immer mehr Forscher, dass an die Stelle von "Nationaldisziplinen" wie die Germanistik, Romanistik und Slawistik, die das 19. Jahrhundert dominierten, eine interdisziplinäre Kulturgeschichte treten sollte.  
In der "Europäistik" wird weniger der nationale Aspekt der Kultur betont, sondern vielmehr der gesamteuropäische Charakter einzelner Epochen. Eine so verstandene Kulturwissenschaft will den Reichtum seiner Traditionen neu bewerten. Bei einer Tagung in Deutschland wurde ein Überblick über diesen innovativen Ansatz vermittelt.
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Die Tagung "Europa - Europäisierung - Europäistik: Neue wissenschaftliche Inhalte, Methoden, Projekte", veranstaltet von der Stiftung Universität Hildesheim und dem Institut für Geschichte, fand vom 30. April bis 2. Mai in Hildesheim statt.
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"European Turn"
Die lange Zeit vorherrschende Wertschätzung der nationalen Kulturen drückt sich noch im Vertrag von Nizza vom 26. Februar 2001 aus. Dort wird den Mitgliedstaaten der Europäischen Union "die Entfaltung der Kulturen unter Wahrung ihrer nationalen Vielfalt" garantiert.

Für Michael Gehler, Historiker der Universität Hildesheim, ist dies noch eine anachronistische Wertschätzung der nationalen Kultur. Zwar habe diese einiges Positives geleistet, es gehe aber jetzt darum, den gesamteuropäischen Charakter der Kultur zu betonen.
Europas kulturelles Konzept
Silvio Vietta vom Institut für Angewandte Sprachwissenschaft der Universität Hildesheim, wies auf den metaphysischen Charakter der europäischen Kultur hin. Die Metaphysik begnüge sich nicht damit, die Welt der Erscheinungen zu akzeptieren, sondern gehe von einer "eigentlichen" Welt aus, die sich jenseits der wahrnehmbaren Welt befinde.
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Logos und Pistis
Diese metaphysische Haltung präsentiert sich in zwei Formen: der griechischen "Logos-Kodierung" und der "christlichen Pistis". Damit sind die im antiken Griechenland erfolgte Fixierung auf den Logos und der christliche Glaube gemeint. Beide metaphysische Formationen formulieren ein höheres Prinzip, von dem aus die Alltagswelt eine Abwertung erfährt. Was zählt, ist die Idee, das Wesen, das Sein oder der göttliche, christliche Logos.
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Gefahr der Ausschließung
Der in Wien lehrende Historiker Wolfgang Schmale sieht in diesen für Europa konstitutiven Formen der Metaphysik eine Tendenz zur Ausschließung. Ausgeschlossen werden die Leiblichkeit, die Sinnlichkeit, die Lust, und die Imagination der Menschen. Auch die sozial deklassierten, marginalisierten Gruppen wie Obdachlose oder Mittellose werden in den Konzepten kaum berücksichtigt.

Aber genau diese Subkulturen bergen laut Schmale Sprengstoff für die Zukunft Europas.
Literaten die besseren Historiker?
Gegen die "großen Erzählungen" vom griechischen Logos und christlicher Pistis beruft sich Schmale auf postmoderne Philosophen wie Jacques Derrida oder Jean-Francois Lyotard. An die Stelle der "Meistererzählung" von der einheitlichen Metaphysik treten die "kleinen Erzählungen" Lyotards, die von den Befindlichkeiten und Perspektiven verschiedener Menschen berichten.

Dabei ergeben sich Konvergenzen zu Schriftstellern wie Cees Nooteboom und Karl-Markus Gauß, die in ihren Werken Einblicke in europäische Befindlichkeiten geben, die sich kaum in der Wissenschaft finden. Literaten sind für Schmale die besseren Historiker.
Popanz Europa?
Die "große Erzählung" von einem einheitlichen Europa stößt vielfach auf Misstrauen. Die Diskrepanz zwischen dem Europabild der sogenannten "kleinen Leute" und der dafür werbenden politischen Eliten erklärte der Historiker Michael Gehler (Uni Hildesheim) mit der Arroganz der Macht und mangelnder Transparenz.

Die Geschichte der europäischen Integration werde von elitären Zirkeln vorangetrieben, Entscheidungen würden weit weg von den Bevölkerungen getroffen. Der Hauptgrund läge aber darin, dass regionale, oder nationale Identitäten älter seien als supranationale Identitäten. In kleineren Einheiten wäre die direkte Demokratie eher möglich als in Brüssel, das "wie ein entfernter Moloch erscheint".
Europa - aus US-amerikanischer Sicht
Paul Michael Lützeler von der Washington University in St. Louis beleuchtete das Verhältnis Europa - Amerika. Der Herausgeber der Hermann Broch Gesamtausgabe zeigte am Beispiel von Thomas Jefferson, der längere Zeit als Botschafter in Paris wirkte, den Aspekt der Europaverwertung. Jefferson interessierte sich nur dafür, was für Amerika nützlich war.

Ganz anders agierte der Schriftsteller Henry James, der von 1843 bis 1916 lebte. Er, der mit Gustave Flaubert und Iwan Turgenjew bekannt war, bemühte sich leidenschaftlich um eine Vermittlung der europäischen Kultur.
Europa als Laborversuch
Eine Generation später hatten sich laut Lützeler die kulturellen Gräben so vertieft, dass US-amerikanische und europäische Intellektuelle kaum mehr miteinander auskommen konnten. Deutlich wurde dies am Beispiel von Theodor W. Adorno, der mit der amerikanischen Kulturindustrie nicht zurechtkam.

In jüngster Zeit zeigt sich wieder eine Begeisterung für Europa. So spricht der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin in seinem Buch "Der europäische Traum" von Europa als "einem gigantischen Laborversuch, der als universelles Modell dienen kann".
Öffnung in sich verkapselter Strukturen
Dieser optimistischen Einschätzung schloss sich Michael Gehler an. Sein Vorschlag lautete, vorhandene Traditionen Europas zu sichten, Befunde zu benennen, verschiedene Ansätze zu bündeln und interdisziplinäre Netzwerke zu initiieren.

Mit der Veranstaltung sollte auch die bisher vorherrschende Deutungshoheit der Rechts-Staats- und Politikwissenschaften gebrochen werden, um "im Kontext der Europastudien zu prüfen und entsprechend zu fragen, welche Möglichkeit Geistes- und Kulturwissenschaften haben". Diese miteinander vernetzten Europastudien könnten dann - so der Philosoph Jürgen Habermas - "die innere Öffnung in sich verkapselter Kulturen bewirken, um diese füreinander zu öffnen".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 16.5.08
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Literaturhinweise
Silvio Vietta, Europäische Kulturgeschichte. Eine Einführung UTB 8346
Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der europäischen Identität, Kohlhammer
Paul Michael Lützeler: Die Schriftsteller und Europa, Nomos Verlag
Michael Gehler: Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, Olzog Verlag
Jeremy Rifkin: Der europäische Traum. Die Vision einer leisen Supermacht, Campus Verlag
Jürgen Habermas: Ach Europa. Kleine politische Schriften XI, Suhrkamp Verlag
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01.01.2010