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Otto Neuraths "Demokratisierung des Wissens"  
  Mit dem Namen Otto Neurath bringt man heute in erster Linie seine Bildersprache in Verbindung. Hinter den Piktogrammen steht aber ein breit gefasstes politisches Projekt, mit dem Neurath die "Demokratisierung des Wissens" vorantreiben wollte. Die reine Popularisierung lehnte er aber ab, wie der Politikwissenschaftler Günther Sandner in einem Gastbeitrag bescheibt: Sie führe zu neuen Unzulänglichkeiten.  
Otto Neurath - ein Universalgenie?
Von Günther Sandner

Der in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg weitgehend vergessene Otto Neurath (1882-1945) ist in den letzten Jahrzehnten aus mehreren Gründen wieder in den Blick einer interessierten Öffentlichkeit gerückt:

Während die Philosophen den unermüdlichen Organisator des Wiener Kreises und Mitbegründer des Logischen Empirismus würdigen, die Wirtschaftshistoriker die umstrittene Kriegswirtschaftslehre sowie die (heute ausgesprochen unzeitgemäßen) Planungs- und Sozialisierungsmodelle diskutieren, interessieren sich die Gesellschaftswissenschafter etwa für seine Empirische Soziologie (1931) oder die Reflexionen zu den Grundlagen der Sozialwissenschaften (1944).
Universelle Bildsprache
Bild: APA
Otto Neurath (undatiertes Archivbild)
Vielleicht am nachhaltigsten und deutlichsten haben seine Arbeiten zur Bildstatistik und Bildpädagogik Spuren hinterlassen, die zumindest zum Teil auch heute noch im öffentlichen Leben präsent sind: Neuraths Piktogramme definieren eine Bildsprache, die nicht nur für statistische Zwecke verwendbar ist, sondern auch als Informationsquelle, Orientierungshilfe und Wegweiser im öffentlichen Raum.

Gerade weil sie Sprachbarrieren zu überwinden vermag, findet sie ihre Anwendung international und universell. Es spricht für die Einschätzung Neuraths als "Universalgenie" (William Johnston), dass selbst mit diesem vielseitigen intellektuellen Panorama, das hier nur kurz angerissen wurde, lediglich erst ein Teil von Neuraths Wirken erfasst worden ist.
->   Bildersprache als neue Wissenskultur
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Veranstaltung zu Otto Neurath
"Otto Neurath und die Demokratisierung des Wissens - Wissensaneignung, Partizipation und Empowerment" lautet der Titel eines "Werkstättengesprächs" unter anderem mit Günther Sandner, das den demokratiepolitischen Vorstellungen Neuraths auf den Grund gehen soll.

Wo: Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF), Schottenfeldgasse 29, 1070 Wien
Wann: 12. Juni 2008, 18.00 - 20.00 Uhr
->   IFF Wien
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Neuraths Leben: Studium und Praxis
Neuraths Leben muss vor dem Hintergrund der politischen Geschichte Österreichs und Deutschlands betrachtet werden. Nach dem Studium in Wien und Berlin (1902-1906), das er mit einer wirtschaftsgeschichtlichen Dissertation beendete, arbeitete er zunächst als Lehrer und Journalist, später im österreichischen Kriegsministerium und als Direktor des Leipziger Kriegswirtschaftsmuseums (1917/18).

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erhielt er die Möglichkeit, seine Sozialisierungsideen in Bayern als Leiter des Zentralwirtschaftsamtes umzusetzen. Doch nach dem gewaltsamen Sturz des Räteregimes wurde er zuerst zu eineinhalb Jahren Kerker verurteilt, dann aber vor dem Antritt der Strafe (aufgrund politischer Intervention) ausgewiesen.
Arbeiterklasse Zugang zu Wissen verschaffen
In Wien engagierte er sich in der Siedlerbewegung und gründete schließlich Mitte der 1920er Jahre das berühmte Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum, an dem die Wiener Methode der Bildstatistik entwickelt wurde.

Sie sollte ein Instrument sein, um insbesondere der Arbeiterklasse den Zugang zu wirtschaftlichem, sozialem und politischem Wissen zu verschaffen. Gerade im Roten Wien der Ersten Republik fand diese Institution eine geeignete Stätte. Doch nach dem Februar 1934 konnte der Sozialist Neurath, der sich gerade in Moskau befand, nicht mehr in seine Heimat zurückkehren.
Bildpädagogik vielfach erprobt
Er emigrierte zunächst nach in Holland (1934-40), wo er in Den Haag das Mundaneum-Institut aufbaute, und schließlich, als die Deutschen Truppen die Niederlande besetzten, nach England (1940-1945). In Oxford lehrte er an der Universität, engagierte sich führend in der Unity-of-Science-Bewegung und entwickelte die Bildpädagogik weiter.

Sie fand ihre Anwendung nicht nur in zahlreichen Ausstellungen, in Vorträgen, Büchern und Broschüren, sondern auch in Filmen, die unter anderem vom britischen Informationsministerium finanziert wurden. Gerade in diese Zeit fallen auch Neuraths Reflexionen zu seinem langjährigen politischen Projekt, der Demokratisierung des Wissens.
Popularisierung oder Humanisierung?
Neurath unterschied dabei sehr genau zwischen Popularisierung und Humanisierung. Denn die traditionelle Wissenschaftspopularisierung, wie sie in der Volksbildung umfassend Einzug gehalten hatte, lehnte er ab.

Diese versuchte, komplizierte Sachverhalte in eine einfache Sprache rückzuübersetzen, doch, so Neurath, gerade die Unzulänglichkeit dieser Sprache war es ja gerade oft, die zur Entwicklung einer genaueren, spezialisierten Fachsprache geführt hatte.
Alltagssprache der Menschen
Das Konzept der Humanisierung des Wissens setzte genau am anderen Ende an, beim Wissensniveau und der Alltagssprache der Menschen. Darauf aufbauend sollte schrittweise - vom Einfachen zum Komplizierten - Wissensaneignung ermöglicht werden.

Die Methode der Visualisierung, die Neurath für eine weitgehend neutrale Sprache hielt, war dafür besser geeignet als die oft dunkle, mehrdeutige Schriftsprache. Durch Humanisierung des Wissens konnten auch die sonst so typischen Minderwertigkeitsgefühle von Laien gegenüber Experten verhindert werden.
Bis heute relevant
Gerade damit sprach Neurath ein Problem an, das bis in unsere Zeit hinein nichts von seiner Brisanz verloren hat, im Gegenteil: Gerade in wissensbasierten Gesellschaften und Demokratien sind Expertisen für politische Entscheidungen unerlässlich.

Wie kann aber die daraus resultierende Macht von Fachleuten, die in der Regel zumindest nicht unmittelbar demokratisch legitimiert sind, reguliert werden - ohne deswegen ihre Notwendigkeit zu bestreiten? Bis heute ist dies ein viel diskutiertes Thema, auch in der Demokratietheorie.
Qualität der Demokratie
Neuraths Reflexionen dazu sind nicht bis ins letzte Detail hinein ausgereift, aber dennoch - insbesondere wenn man ihr Entstehungsdatum berücksichtigt - von beachtlicher gedanklicher Schärfe. Sie definieren Voraussetzungen und Möglichkeiten der Kommunikation zwischen Laien und Experten, bei der Visualisierung als Verständigungsmittel eine zentrale Rolle spielt.

Sie verweisen aber auch auf die Gefahren, die ein zu großes Wissensgefälle in der Gesellschaft in sich birgt. Darüber hinaus machen sie deutlich, dass die Qualität eines demokratischen Systems immer auch mit dem Grad der "Demokratisierung des Wissens" zusammenhängt.

[12.6.08]
->   Mehr über den Autor Günther Sandner
->   Institute Vienna Circle
 
 
 
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01.01.2010