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Kurt Lewin: Reality-TV vor 70 Jahren  
  Der Sozialpsychologe Kurt Lewin hat nicht nur die Grundlagen der Gestalttherapie entwickelt. In den 1930er Jahren war er auch einer der ersten Wissenschaftler, der in seinen Vorlesungen Lehrfilme verwendet hat. Sein Versuch, das Leben seiner Versuchspersonen möglichst authentisch abzubilden, stieß an die Grenzen des Mediums Film. In gewisser Weise war Lewin so ein Vorreiter heutiger Reality-TV-Formate, schreibt der Medientheoretiker Ramón Reichert in einem Gastbeitrag.  
Die Medienpraktiken des Dr. Lewin
von Ramón Reichert

Die individual- und sozialpsychologischen Experimente und Analysen des deutsch-amerikanischen Psychologen Kurt Lewin (1890-1947) und seine vielfältige Anwendung von Film setzten über die Fachgrenzen hinaus neue Maßstäbe.

Als Filmemacher potenzierte Lewin seine eigene akademische Reputation und entwickelte neue mediale Aneignungsstrategien für das Wissen vom Menschen.
Erste Versuche mit Filmaufnahmen
Bild: Ramon Reichert
Kurt Lewin
1923 begann Lewin in enger Zusammenarbeit mit Tamara Dembo, Anitra Karsten, Bluma Zeigarnik, Richard Meili und anderen Studierenden des Psychologischen Instituts der Berliner Kaiser-Wilhelm-Universität Filmaufnahmen von Kindern in experimentell geschaffenen Konfliktsituationen herzustellen.

Seine russische Assistentin Bluma Zeigarnik betonte in einem Interview, dass Lewin mit seinen frühen Filmen den Grundstein für seine Feldtheorie legte.

Im Unterschied zur Psychopathologie der Leistungsfeststellung wie sie von der Industriepsychologie mit Hilfe von Test- und Instruktionsfilmen durchgeführt wurde, konzentrierten sich die experimentellen Filmaufnahmen der Lewin-Gruppe auf die Beobachtung aufgabefreier Situationen.
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Vortrag in Wien
Ramón Reichert hält am Montag, 24.11. 2008, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Die Medienpraktiken des Dr. Lewin".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Reichsratsstraße 17, 1010 Wien.
->   IFK
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Inszenierte Natürlichkeit
Die Forschergruppe wollte das "Sich-Freifühlen" der Versuchspersonen im "Rahmen des 'Natürlichen'" sichtbar machen. Doch bereits im Vorfeld der Filmaufnahme musste der experimentelle Raum auf die begrenzten Möglichkeiten des Kameraobjektivs eingestellt werden.

Im Unterschied zur experimentellen Situation mit mehreren Beobachtern, die im Raum verstreut unterschiedliche Sichtlinien knüpften, gab es im filmbasierten Experiment nur eine Sichtlinie, nämlich die Kamera. Um die Schwierigkeit des schmalen, keilförmigen Raumausschnitts vor der Kamera zu bewältigen, entschied sich die Forschergruppe für die filmische Rauminszenierung der nahen Einstellungen.

Dazu mussten die handlungsrelevanten Versuchspersonen im zentralen Bildvordergrund in Szene gesetzt und von den Versuchsleitern zum Handeln motiviert werden. Die Resultate der sozialpsychologischen Versuche verdanken sich also einer inszenatorischen Dramaturgie während der Dreharbeiten.
Der Forscher als Amateurfilmer
 
Bild: Ramon Reichert

Amateuraufnahmen am Strand

Zur Stärkung der voyeuristischen Position des forschenden Blicks bedienten sich die Berliner Psychologen beim Filmen der Kinder der Methode der versteckten Kamera und nahmen damit das mediale Setting der später einflussreichen Sozialexperimente Obedience (Stanley Milgram, 1963) und Stanford Prison Experiment (Philip G. Zimbardo, 1971) vorweg.

Zum Studium von Kindern in 'natürlichen' Konfliktsituationen begann Lewin im Jahre 1923, Filme seiner eigenen Kinder zu drehen. Das Filmen im privaten Feld ermöglichte eine technische Innovation der deutschen Filmindustrie im Jahr 1923.

Die Federwerkskamera "Ica-Kinamo" der Dresdner Ica AG hatte ein Federwerk, welches die Handkurbel zum Transport des Filmstreifens ersetzte. Mit der Kinamo, die mit dem Slogan "Filme dich selbst!" beworben wurde, hatte Lewin die Aufhebung des Gegensatzes von Labor und Leben im Visier.
Begeisterung bei Eisenstein
Mit der Handkamera erzielte Lewin eine neuartige filmische Ästhetik in der Domäne der wissenschaftlichen Kinematographie. Mit dem "Tele-Objektiv" konnte sich der Psychologe im Hintergrund des Kinofeldes aufhalten und die jeweiligen Akteure in halbtotalen oder halbnahen Kameraeinstellungen aufnehmen.

Im Jahr 1929 führte Lewin dem russischen Regisseur Sergej Eisenstein am Berliner Institut für Psychologie einige seiner Filme vor. Eisenstein war begeistert von Lewins Studien zur mimischen und gestischen Ausdrucksbewegung.

Im Gegenzug stellte Lewin in seinem Aufsatz Kindlicher Ausdruck (1927) eine konzeptionelle Nähe zu Eisensteins Theorie der theatralischen Ausdrucksbewegung her, die der Regisseur 1923 gemeinsam mit Sergej Tretjakow veröffentlichte.
Die subjektive Kamera
 
Bild: Ramon Reichert

Hanna erklettert die Stufen (Tochter von Wolfgang Köhler)

Der Dreh im offenen Feld war im Unterschied zur isolierten Laborsituation unvorhersehbar und erforderte eine ortsunabhängige und bewegliche Aufnahmetechnik. Mit der wackeligen Hand-Kinamo und dem beweglichen Teleobjektiv nobilitierte Lewin die Ästhetik der subjektiven Kamera für die wissenschaftliche Kinematographie.

Damit stellte er die Objektivität der statischen Kameraeinstellung, die bisher das neutrale und unverfälschte Bild des wissenschaftlichen Wissens verkörperte, radikal in Frage. Mit seiner Amateurfilmkamera wechselte Lewin permanent die Einstellungsgrößen.

Sprunghafte Kamerabewegungen, Unschärfen oder Schlagschatten aus dem szenischen Off simulierten weniger das Abbild des Lebens vor der Kamera, sondern vielmehr die Wahrnehmungsarbeit des beobachtenden Blicks hinter der Kamera.
Einfangen des wirklichen Lebens
Die von Lewin in seinem Tempelhofer Hinterhof, bei Landpartien und in der Sommerfrische am Meeresstrand durchgeführten 'Lebensexperimente' zielten darauf, das Leben in seiner Unmittelbarkeit und Authentizität einzufangen.

Sein experimentalpsychologischer Anspruch, die 'ungestellte' Wirklichkeit des sozialpsychologischen Ausdrucks festzuhalten und damit Nicht-Sichtbares sichtbar zu machen, hatte ein großes Naheverhältnis zur zeitgenössischen Film-Avantgarde.

Wie Dziga Vertov (1896-1954), russischer Avantgardist und erster Theoretiker des Dokumentarfilms, war Lewin der Ansicht, dass die Kamera als Werkzeug in der Hand des Filmemachers in der Lage sein könne, die Wirklichkeit zu durchdringen und so die versteckten Ereignisse des täglichen Lebens bloßzulegen.
Die Erfindung des Reality-TV
Mit der Integration der Filmkamera veränderte sich der entwicklungspsychologische Process of Discovery. Schauwerte, Blickführung, dramatische Handlung, aufmerksamkeitsfördernde Maßnahmen, Emotionen durch Einstellungsgrößen: Mit diesen und anderen Mitteln setzte der deutsch-amerikanische Psychologe Kurt Lewin nicht nur neue Maßstäbe im wissenschaftlichen Film, sondern verankerte das Alltägliche und Gewöhnliche in den Wissenschaften vom Menschen.

Das von Lewin erfundene Set Design zum Studium der psychologischen Ausdrucksbewegungen beim Menschen kann als ein Prototyp gegenwärtiger Menschenversuche in den Reality-TV-Formate angesehen werden.

[24.11.08]
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Ramón Reichert ist Assistent am Institut für Medien/Medientheorie der Kunstuniversität Linz, Key Researcher am Institut Europäische Geschichte und Öffentlichkeit der Ludwig Boltzmann Gesellschaft, Wien, Kurator des Siemens Arts Program und Lektor an der Universität Mozarteum, Salzburg.
Publikation (u.a.): Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0, Bielefeld 2008.
->   Ramón Reichert, Kunstuniversität Linz
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01.01.2010