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"Eigentum ist Diebstahl"
200. Geburtstag von Pierre-Joseph Proudhon
 
  Großes Aufsehen hat der französische Denker Pierre-Joseph Proudhon mit seiner Schrift "Was ist das Eigentum?" erregt. Darin findet sich der Satz: "Eigentum ist Diebstahl", auf den sich mehrere marxistische und anarchistische Theoretiker beriefen.  
Er gilt als einer der Gründungsväter des Anarchismus, der jede Autorität ablehnt und die allgemeine Herrschaftslosigkeit propagiert. Das Projekt Proudhons bestand darin, Wege aufzuzeigen, wie man Herrschaft bekämpfen kann. Am Donnerstag war sein 200. Geburtstag.
Stammt aus ärmlichen Verhältnissen
Die Abneigung gegen das kapitalistische System, dem sich Proudhon zeit seines Lebens widmete, hat mit seiner Herkunft zu tun. Der am 15. Januar 1809 in Besancon geborene Sohn eines Handwerkers und einer Küchenmagd wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und arbeitete bis zum 12. Lebensjahr als Ochsenknecht.

Aus Geldmangel musste er den Schulbesuch abbrechen und lernte den Beruf des Schriftsetzers. Als Autodidakt erwarb er sich Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen und las juristische, ökonomische und philosophische Bücher.
Solidarität mit den Ausgebeuteten
1837 erhielt er ein dreijähriges Stipendium der Akademie von Besancon. Schon damals zeigte sich seine Solidarität mit der Arbeiterklasse: Er wolle seine Studien betreiben, so schrieb Proudhon, "um ohne Unterlass mit Hilfe der Philosophie und Wissenschaft, mit der ganzen Energie meines Willens und aller Kraft meines Geistes, an der physischen, moralischen und intellektuellen Verbesserung derjenigen zu arbeiten, welche ich meine Brüder und Genossen nenne".
"Was ist das Eigentum?"
1840 erschien die Schrift "Was ist das Eigentum?", die Proudhon einer breiteren Öffentlichkeit schlagartig bekannt macht. Darin findet sich der Slogan "Eigentum ist Diebstahl", der bis heute als Schreckgespenst für alle Besitzenden dient.

Auch Marx, der später Proudhon heftig kritisierte, fand Gefallen an dem "epochemachenden Buch". Er schätzte den "herausfordernden Trotz, der das ökonomische Allerheiligste antastet, die geistreiche Paradoxie, womit der gemeine Bürgerverstand gefoppt wird und das tiefe und wahre Gefühl über die Infamie des Bestehenden".
->   Proudhon: Was ist das Eigentum?
Differenzierung einer Provokation
Bild: Marxists Internet Archive/Creative Commons
Pierre-Joseph Proudhon
Die Grundlagen der wirtschaftlichen Ausbeutung sah Proudhon im Eigentumsrecht verankert. Jedoch unterscheidet er zwischen Eigentum und Besitz. Der Satz "Eigentum ist Diebstahl" richtet sich nicht gegen den individuellen Besitz, sondern gegen das arbeitslose Eigentum, das dem Eigentümer ein Einkommen aus Zins, Grundrente oder Pacht garantiert, ohne dass er gezwungen ist, selbst etwas zu tun.

"Der Eigentümer erntet, ohne zu säen" lautet der lakonische Befund. Heute würden noch Aktien oder Derivate dazukommen.

Die Abschaffung des arbeitslosen Einkommens sollte soziale Ungerechtigkeit beseitigen und Chancengleichheit garantieren; nur der aus eigener Arbeit gewonnene Besitz ist legitim. Proudhon räumte auch mit dem bis heute gebetsmühlenartig wiederholten Mythos auf, dass die Kapitalisten ihren Reichtum durch persönliche Tüchtigkeit und effiziente Arbeit erworben haben. Vielmehr ist die Ausbeutung fremder Arbeit dafür verantwortlich.
Gerechter Austausch: Ende der Ausbeutung
Um nun das ungerechte kapitalistische System der Ausbeutung zu beenden, bedarf es einer radikalen Reform des Tauschwesens. Wie Proudhon sich das vorstellte, skizzierte er in dem umfangreichen Werk "Die Widersprüche der Ökonomie oder Philosophie des Elends", das 1846 erschien.

Darin soll das kapitalistische Privateigentum durch den persönlichen Besitz an Produktionsmitteln ersetzt werden. Jeder soll nur soviel davon verfügen, wie er für die lebenserhaltende Arbeit für sich und seine Familie benötigt. So entsteht eine Gemeinschaft von Kleinproduzenten, welche die Produkte ihrer Arbeit unmittelbar untereinander austauschen.

Als Wert, der den Tausch leiten sollte, also die Werteinheit, ist die geleistete Arbeitsstunde des jeweiligen Produzenten vorgesehen. Die Prinzipien des Austausches sind Gleichheit und Gerechtigkeit. Jede ungerechte Aneignung fremder Arbeit sollte untersagt werden, um dadurch keine Anhäufung von Kapital zu ermöglichen. Diese Idee des gegenseitigen Austausches (Mutualismus) entwickelte Proudhon mit großer Leidenschaft.
Kritik und Spott von Marx/Engels
In der Schrift "Elend der Philosophie" warf Karl Marx Proudhon vor, dass er gar nicht das Eigentum als solches angreife, sondern nur das Eigentumsmonopol der Kapitalisten. Er verkenne das revolutionäre Potenzial des Kommunismus, das sich gegen jeglichen Besitz von Produktionsmitteln wende.

Proudhon, den er als Kleinbürger beschimpft, suche mit seiner Gemeinschaft von Kleinproduzenten einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, der die Kleineigentümer vor beiden schützen soll.

Auch Friedrich Engels machte sich über Proudhon lustig: "Der Kleinbürger Proudhon verlangt eine Welt, in der jeder ein apartes, selbständiges Produkt verfertigt, das sofort verbrauchbar und auf dem Markt austauschbar ist", notierte er. Die zeitgenössische industrielle Entwicklung setze auf die Großindustrie, der Zug für Kleinproduzenten sei schon längst abgefahren.
->   Karl Marx: Das Elend der Philosophie
Wider den Staatssozialismus
Was Marx/Engels an Proudhon besonders irritierte, war sein Festhalten an einer Gesellschaft, die sich durch ein Zusammenspiel von einander gegenseitig helfenden Menschen auszeichnet.

Die von den marxistischen Klassikern propagierte Diktatur des Proletariats, die sich in der kristallinen Form des Staatssozialismus verfestigte ("die Verdummungen des doktrinären Staatssozialismus"), wurde von Proudhon schon früh als weiteres Glied in der Kette der Herrschaftssysteme erkannt, die "geradewegs in die Sklaverei und Bestialität führt".
"Gemeinsam sind wir stark"
An die Stelle jeglicher Herrschaftsordnung sollte nach Proudhon eine freiwillige, vernetzte Organisation der Gesellschaft treten, die ständig im Fluss ist. Alle staatlichen Funktionen sollten durch Verträge zwischen den Betroffenen ersetzt werden. Diese Verträge müssten unbedingt eingehalten werden. So entstünden unterschiedliche Vereinigungen, welche die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen erfüllten.

Dieser lose Verband solidarischer Kleingruppen würde dann endlich die kapitalistische Ausbeutung beenden und den repressiven Staat abschaffen. Es wäre dies eine Form des Anarchismus, die auch bei dem italienischen Philosophen/Soziologen Antonio Negri in seinem mit Michael Hardt verfassten Kultbuch "Multitude" auftaucht.

Dort bezeichnen sie die "Multitude" als die Vielheit von Personen, die sich gegen die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse ausspricht. Sie wird "angetrieben durch die Differenz, das Gemeinsame zu entdecken, dass es erlaubt, miteinander in Beziehung zu treten und gemeinsam zu handeln".

Nikolaus Halmer, Ö1 Wissenschaft, 15.1.09
->   Proudhon (Marxists Internet Archive)
Aktuelles zum 200. Geburtstag von Proudhon:
->   TAZ: Der anarchistische Kleinbürger
->   Le monde diplomatique: L'infrequentable Pierre-Joseph Proudhon
->   NZZ: Darwin, Calvin, der Geist des Kapitalismus und ein Anarchist
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Literaturhinweise:
"System der ökonomischen Widersprüche oder das Philosophie des Elends", (Herausgeber: Lutz Roemheld/Gerhard Senft), Karin Kramer Verlag
Michael Hardt/Antonio Negri: "Multitude. Krieg und Demokratie", Campus
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01.01.2010