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Utopien: Die Entdeckung der Zukunft  
  Um den idealen Staat zu beschreiben, greifen Schriftsteller seit 500 Jahren zum Genre der Utopie. Die Geschichte dieser Zukunftshoffnungen hat der Germanist Michael Dominik Hagel untersucht. Wie sich "Utopia" von Thomas Morus bis zur deutschen Aufklärung verändert hat und doch gleich geblieben ist, beschreibt er in einem Gastbeitrag.  
"Nicht-Ort" oder "Guter Ort"?
Von Michael Dominik Hagel

Utopien sind realitätsfern. So will es zumindest der gegenwärtige Sprachgebrauch, der das Utopische allenfalls mit Wunschdenken, wenn nicht gröberen Verirrungen, gleichsetzt.

Ein Dilemma von Wünschenswertem und Machbarkeit ist im Wort "Utopie" seit seiner Erfindung angelegt. 1516 gab Thomas Morus - Undersheriff von London und später Lordkanzler unter Heinrich VIII. von England - dem Land, das sein "Büchlein von der besten Staatsverfassung" beschreibt, den Namen "Utopia".

"U-topia" ist aus dem Griechischen abgeleitet und bedeutet soviel wie "Nicht-Ort". Englisch ausgesprochen kann es aber ebenso gut als "Eu-topia" aufgefasst werden - was mit "guter Ort" übersetzt werden kann.
Karriere des Wortes "Utopie"
Das Buch von Morus, vor allem aber der Kurztitel unter dem es bekannt wurde, und die mit ihm verbundenen Vorstellungen, sind aus der Geschichte Europas in den fast 500 Jahren, die seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe vergangen sind, nicht wegzudenken.

In der Geschichte der Neuzeit haben Utopien immer wieder Konjunktur gehabt. Vor allem in Zeiten politischer Krisen blüht das utopische Genre. Kaum eine Generation hat nicht ihre Vorstellung eines optimalen Zustandes formuliert oder gegenüber der Utopie Stellung bezogen - auch die heute geläufige Identifizierung von Utopie und Unmöglichkeit ist ein solcher Kommentar.
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Vortrag in Wien
Dominik Hagel hält am Montag, den 20.4, 18 Uhr c.t. den Vortrag "Der Spiegel des Staats. Christoph Martin Wielands Reflexion der optimalen Regierung".
Ort: IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Reichsratsstraße 17, 1010 Wien
->   Mehr über den Vortrag
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Das Spiel der Namen
 
Bild: Wikimedia Commons

Holzschnitt der Insel Utopia, Ausgabe Löwen 1516

Utopia wird bei Morus von einem Weggefährten Amerigo Vespuccis, der mehrere Jahre auf der Insel verbracht haben will, beschrieben. Sein Name ist Raphael Hythlodeus.

Auch dem Namen des Berichterstatters liegt ein Wortspiel zu Grunde: Eine moderne Übersetzung nennt ihn Nonsenso. Er berichtet unter anderem von einem Fluss namens Wasserlos oder einem Präsidenten mit dem Titel Ohne-Volk.

Die Beschreibung Utopias erschöpft sich aber keineswegs in den Verneinungen eines humanistischen Sprachspiels. Der Text ist fest in der Wirklichkeit der Gegenwart Englands am Beginn des sechzehnten Jahrhunderts verankert.
Schilderung Utopias
Die Beschreibung der Insel Utopia entwirft ein Spiegelbild zum englischen Königreich während der Tudor-Herrschaft. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass in Utopia die Missstände des realen Inselreichs nicht existieren.

Die Lösung aller Probleme besteht in einem ausgeklügelten politischen und sozialen System, das allen Bewohnern der Insel optimale Lebensbedingungen ermöglicht. Vor allem aber in der Abschaffung jeglichen Privateigentums.

Das ist die Antwort, die Morus, der das Wort "Utopie" erfunden hat, auf die Fragen seiner Gegenwart gibt. Seine Nachfolger werden andere Antworten auf andere Probleme zu geben versuchen.
Abschied von der Insel
Was sich in der utopischen Literatur ändert, sind aber nicht nur die Probleme, denen sich die Utopien stellen müssen. Ebenso aufschlussreich wie die utopischen Visionen einer Epoche ist die Form, in der sie präsentiert werden.

Bis ins achtzehnte Jahrhundert bleibt die Insel der bevorzugte Ort der Utopien. Fast ausschließlich Seefahrer sind es, die von bislang unbekannten Orten und den dort zu findenden ideal verfassten Gemeinwesen berichten. Es gibt aber auch andere Arten, dem Publikum optimale Staaten zu präsentieren.
Der erste Blick in die Zukunft
Bild: Wikimedia Commons
Der entscheidende Bruch mit der Tradition der Inselutopie erfolgt im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts.
"Das Jahr 2440. Ein Traum aller Träume" ist der Titel des Buches, das die Wende zu einer völlig neuen Art Utopien zu denken markiert.

Das 1771 erschienene Werk des französischen Schriftstellers Louis-Sebastien Mercier schildert einen optimalen Staat, der nicht auf einer entlegenen Insel, sondern in Europa, wenn auch in ferner Zukunft, zu finden ist.

Mit der Verlagerung der utopischen Visionen in die Zukunft gewinnen die Projekte eine Verbindlichkeit, die den halbsatirischen Berichten der Seefahrer unbekannt war.
Zeitenwende
Mercier, der sich nach der französischen Revolution zu deren Propheten stilisierte, folgt dem Denken der Aufklärung, das Geschichte als einen sich zum Besseren und Besten entwickelnden Prozess vorstellt.

Im "Jahr 2440", einem internationalen Bestseller seiner Zeit, tritt dieses Denken besonders augenfällig zu Tage. Nicht weniger liegt es einer Vielzahl von philosophischen Abhandlungen, Traktaten verschiedenster Art und literarischen Texten zu Grunde.
Der goldne Spiegel der Geschichte
Bild: Wikimedia Commons
Portrait C. M. Wielands von Ferdinand Jagemann
Der prominenteste Roman deutscher Sprache, der Utopie als Entwicklungsgeschichte präsentiert, stammt von Christoph Martin Wieland.

Ein Jahr nach Merciers Zukunftsvision erscheint Wielands "Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian". Erzählt wird die Geschichte des fiktiven Königreichs Scheschian. "Der goldne Spiegel" funktioniert nicht als verschlüsselte Abbildung eines gegenwärtigen Zustands, sondern als hochkomplexe Kontrafaktur der europäischen Geschichte.

Gipfelpunkt der Geschichte Scheschians, nach mythischer Vorzeit, despotischer Urzeit, absolutistischer Periode und einer Phase der Schreckensherrschaft instrumenteller Vernunft, ist die Einführung eines allgemeinen Gesetzbuches, auf dessen Grundlage ein gerechter Fürst das Königreich zu bislang unbekanntem Wohlstand führt.
Der Zurücknahme der Zukunftsutopie
Dies ist der Endpunkt des Romans in der Fassung, die 1772 erscheint. Das Buch inszeniert eine Vorstellung von Geschichte als stufenweise Entwicklung, an deren Ende der optimale Zustand des Staats steht. Damit bezeugt er den Fortschrittsoptimismus von dem auch Merciers Text getragen ist.

1794 erweitert Wieland den Text des Romans um ein Schlusskapitel. Die Nachfolger des gerechten Herrschers vom Ende der ersten Fassung können das Optimum ihres Vorgängers nicht halten. Logischer Endpunkt der Staatsgeschichte ist nun nicht mehr gerechte Herrschaft, sondern der Untergang des Reichs.

Wielands Text steht damit an dem Wendepunkt zwischen Utopie des Fortschritts und jenem Pessimismus gegenüber der Zukunftsvision, wie sie dem zwanzigsten Jahrhundert allzu bekannt werden sollte.

[20.4.09]
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Über den Autor
Dominik Hagel ist Literaturwissenschaftler und lebt in Wien.
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->   Morus, Utopia, Digitalisat der Ausgabe von 1518 an der Universitätsbibliothek Bielefeld
Mehr zu dem Thema in science.ORF.at:
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->   Die politische Utopie: Ende oder neuer Anfang?
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01.01.2010