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Biowaffen als psychologische Kriegsführung  
  Nach den jüngsten Fällen von Milzbrand-Infektionen nimmt nicht nur in den USA die Angst vor einem großangelegten Terror-Akt mittles biologischer Waffen zu. Sollten sich diese Ängste in den Köpfen der Menschen festsetzen, dann befürchten Experten eine tiefgreifende Verunsicherung in der Gesellschaft. Die Folgen davon könnten nachhaltiger sein als die physischen Schäden.  
"Bakteriologische und chemische Kampfstoffe sind vielleicht ineffiziente Waffen vom Standpunkt der Militärs aus, aber sie sind ganz sicher potente Werkzeuge des Terrors", sagt Simon Wessely vom Guy's King's and St. Thomas's School of Medicine and Institute of Psychiatry in London.

Denn die Furcht vor einer Attacke mit biologischen oder chemischen Waffen beeinträchtigt die Gesundheit der Menschen mehr als die Waffen selbst, schreiben Wissenschaftler aus England, den Vereinigten Staaten und Australien in der Fachzeitschrift "British Medical Journal".
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Biologische und chemische Waffen
Biologische Waffen stützen sich auf die krank machende Wirkung von Viren, Bakterien und Parasiten bzw. den von ihnen produzierten Giften. Systematische Forschungen auf diesem Gebiet begannen im 20. Jahrhundert. Zunächst wurde mit Krankheitserregern wie Pocken, Typhus und Milzbrand experimentiert. Zu den chemischen Waffen zählen unter anderem Atmungsgifte, Binärkampfstoffe (chemische Substanzen, die getrennt aufbewahrt eher harmlos sind, nach Durchmischung aber zum Kampfstoff werden) und Haut- und Lungenkampfstoffe. Am meisten verbreitet sind jedoch Nervenkampfstoffe wie Sarin oder Tabun.
->   Genetischer Schlüssel gegen Biowaffen
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Angst, Unsicherheit und Verwirrung
"Diese Waffen sind sehr effektiv wenn man Panik, soziales und wirtschaftliches Chaos hervorrufen möchte", meint der Psychologe Wessely.

Der wahre Zweck solcher Kampfmittel ist, laut den Wissenschaftlern, die Beeinflussung der Psyche der Bevölkerung, indem sie Angst, Unsicherheit und Verwirrung auslösen. Sie verursachen Formen der Zerstörung mittels psychologischer Mittel.

Auch die ständige Präsenz ABC-Schutzanzüge tragender Mediziner auf den Fernsehbildschirmen trägt nicht gerade zu einer Normalisierung der Situation bei.Präsentiert man noch die täglich dargestellten Posen unsicherer Politiker, einem ohnedies schon nervösen Publikum, dann lassen sich daran auch schon die ersten Auswirkungen des psychologischen Effektes einer solchen Waffe erkennen.
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Anthrax - der Milzbranderreger
Milzbrand wird ausgelöst durch das Anthrax-Bakterium. Gefährlich wird eine Infektion, wenn die Erreger sich massenhaft vermehren und Giftstoffe bilden. Rechtzeitig erkannt, ist die Krankheit heilbar. Der Milzbrand-Erreger Bacillus anthracis ist ein sporenbildendes Bodenbakterium, das vor allem bei weidenden Tieren Erkrankungen auslöst. Der Name anthracis ist vom griechischen Begriff für Kohle (anthrakis) abgeleitet - wegen der schwarzen Veränderungen infizierter Haut. Die eingekapselten Sporen können Jahrzehnte im Boden überdauern. In einer nährstoffreichen Umgebung wie im Blut eines infizierten Organismus keimen die Sporen aus, die Bakterien vermehren sich. Gefährlich für infizierte Lebewesen ist die Produktion von Giftstoffen (Toxinen) durch die Bakterien.
->   Biowaffen: Neue Generation von Unheilbringern?
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Der Beginn tiefgreifender sozialer Veränderungen?
Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Kurzzeitauswirkungen eine Attacke mit bakteriologischen Waffen weniger Schaden hervorrufen als die apokalyptischen Szenarien der Medien uns glauben machen, so werden die Langzeitfolgen schlimmer sein als wir uns vorstellen, sagt Wessely.

Die derzeitigen überall auf dem Globus zu beobachtenden Ereignisse könnten also nur der Anfang einer tiefgreifenden Verunsicherung und Veränderung im alltäglichen Leben vieler Menschen darstellen.
Ein kurzer Blick um die Welt
In Seattle wurde ein Flug gestrichen, weil Techniker eine verdächtige weiße Substanz an Bord der Maschine fanden. Tatsächlich handelte es sich um ein Erkältungsmittel.

In Florida wurde ein 'High-School'-Klassenzimmer evakuiert, nachdem der Lehrer ein weißes Pulver auf seinem Tisch entdeckte. Es handelte sich um ein Kopfwehmittel, das von einem Schüler dort platziert wurde, in der Hoffnung die Stunde würde ausfallen.

Auf den Philippinen stürmten mehr als tausend Studenten mit den Symptomen Husten und Fieber die Spitäler, nachdem durch Gerüchte verbreitet worden war, dass dies die typischen Milzbrandsymptome seien.

Eine von Wien nach Neu-Delhi fliegende Maschine musste umkehren, nachdem an Bord ein weißes Pulver gefunden wurde. Es handelte sich um ein Kosmetikpuder.
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Die Masse und ihre Psychologie
Masse ist eine Bezeichnung für eine nicht organisierte Menge von Menschen, häufig in Form einer vorübergehenden Menschenansammlung. Beispiele: Fußball, Demonstration usw. In der Masse werden häufig Verhaltensweisen gezeigt, die eine Person für sich allein oder in einer Gruppe nicht vollziehen würde. Beispiele: Plünderung von Geschäften, Lynchjustiz usw. Drüber hinaus sind die Kritik- und Urteilsfähigkeit des einzelnen Menschen oft herabgesetzt, es findet häufig eine gegenseitig Beeinflussung von Gefühlen und Gedanken statt. Beobachtet wird auch eine Reduktion von kooperativem und altruistischem Verhalten.
->   Mehr zu Massenpsychologie
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Krankheiten ausgelöst durch soziale Veränderungen
Der Vorschlag, Detektoren für das Aufspüren von chemischen Kampfmitteln in der Washingtoner U-Bahn zu installieren, ist nur ein weiteres Indiz für das psychologische Profil, das die Ereignisse des 11. Septembers bei vielen zeichnete:
"Massen-soziogenetische Krankheiten".

Denn es ist sehr wahrscheinlich das solche Systeme, auf Grund der hohen Wahrscheinlichkeit von Fehlalarmen, mehr zu Störungen des Verkehrs beitragen, als die Terrorattacken selbst. Und so wiederrum die allgemeine Verunsicherung und das allgegenwärtige Bedrohungsgefühl schüren.

Unter "Massen-soziogenetischen Krankheiten" verstehen Wessely und seine Kollegen "unangebrachte Reaktionen, die durch angenommene, vorgestellte Bedrohungen ausgelöst werden". Also Krankheiten die stärker mit sozialen Faktoren verbunden sind als mit medizinischen Ursachen.
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Politische Auswirkungen
Das US-Gesundheitsministerium soll nach dem Willen von Präsident George W. Bush zusätzlich 1.5 Milliarden Dollar (1.6 Milliarden Euro; 22.8 Milliarden Schilling) für die Vorbereitung auf mögliche Bioterror-Anschläge erhalten. Mit dem Geld sollen unter anderem mehr Medikamente gegen Anthrax und Pocken gekauft werden. Das Ministerium will auch Geld zur Erforschung von Impfstoffen sowie zur Modernisierung von Krankenhäusern bereit stellen, damit sie im Fall eines Anschlags möglichst viele Patienten behandeln können. Weiters sollen importierte Nahrungsmittel stärker als bislang inspiziert werden.
->   Milzbrand-Erkrankung in den USA - ein Terror-Akt?
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Dauer der Auswirkungen nicht absehbar
Aber nicht nur neue Krankheitsformen werden durch die veränderte Lage entstehen. Denn die gestiegene Intensität des Unwohlseins, der Angst und der Beklemmung wird wahrscheinlich noch einige Jahre anhalten, das alltägliche Leben beeinflussen und so zu einer Steigerung der bereits bestehenden psychischen Krankheiten beitragen.

Auch das Vertrauen in die Vertreter von Regierungen und Gesundheitsbehörden ist nachhaltig erschüttert worden, da niemand sichere Aussagen zum tatsächlichen Risiko machen kann.
Der Artikel im British Medical Journal.
->   Appropriate responses to bioterrorist threats
 
 
 
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01.01.2010