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Geheime Geschäfte: Die Schweiz in der NS-Zeit  
  Die Schweiz diente Nazi-Deutschland als Drehscheibe für verdeckte Wirtschafts-Operationen. Sie beherbergte bei Kriegsende geflüchtete NS-Wirtschaftskader und schützte sie vor alliiertem Zugriff. Teilweise sperrte sich die Schweiz auch gegen die Aufspürung deutscher Vermögenswerte im Lande - so die Schweizer Historikerkommission.  
Die unabhänggie Expertenkommission unter Professor Jean-François Bergier stellte am Donnerstag in Bern sieben neue Studien über die Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland und Italien sowie über das schweizerische Rechtssystem während der Nazizeit vor. Außerdem wurden drei bereits veröffentlichte Berichte zum Thema Flüchtlinge teilweise überarbeitet.
"Verschweizerung" deutscher Firmen
Deutsche Firmen wurden laut Studien während des zweiten Weltkrieges zur Tarnung "verschweizert", damit sie unbehelligt von den Alliierten für die deutsche Kriegswirtschaft arbeiten konnten - etwa zur Devisenbeschaffung oder zum Verkauf von Raubgut.

Dies geschah teils mit Hilfe von Schweizer Strohmännern. Die Studie spricht von mehreren hundert deutschen Tarnfirmen in der Schweiz. Als sich die deutsche Niederlage abzeichnete, bauten sie "Wartestellungen" für die deutschen Unternehmen für die Nachkriegszeit auf.
Vorsorge für die Nachkriegszeit
Der Vorsorge für die Nachkriegszeit diente auch der Transfer deutscher Vermögenswerte ins neutrale Ausland. Deutsche Unternehmen verlagerten heimlich Vermögen, Lagerbestände und sogar die Produktionen ins Ausland - als Starthilfe für den Wiederaufbau nach dem Kriege.

Das Ausmaß dieser Transfers sei beträchtlich gewesen, sagte Christiane Uhlig, Mitautorin der Studie am Donnerstag.
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"Bergier-Kommission"
Die Unabhängige Expertenkommission "Schweiz - Zweiter Weltkrieg" wurde im Dezember 1996 von Regierung und Parlament in Bern beauftragt, die Rolle der Schweiz und der Banken im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg zu untersuchen. Die Kommission wird vom Schweizer Wirtschaftshistoriker Jean-Francois Bergier geleitet. Ihr gehören sechs weitere Historiker, ein Jurist und eine Wirtschaftswissenschaftlerin an. Die Experten hatten unter Aufhebung des Bank- und Berufsgeheimnisses Zugang zu allen relevanten Akten. Das Mandat der Kommission läuft Ende des Jahres ab, die Arbeiten der Regierung vorgelegt und im Frühjahr 2002 veröffentlicht.
->   Bergier-Kommission
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Raubgut im Wert von zwei Milliarden Franken?
So hätten sich nach Kriegsende in der deutschen Botschaft enorme Menge an Brillianten befunden. Viele dieser Vermögen waren durch Raub zustande gekommen. Die Alliierten forderten daher alle ins Ausland transferierten deutschen Vermögen ein.

Während die Bergier-Forscher keine Bankkonten führender Nazis in der Schweiz feststellten, eruierten sie doch Bankverbindungen von Vertretern der wirtschaftlich-diplomatischen Eliten.

Die schweizerische Verrechnungsstelle ermittelte nach 1945 deutsche Vermögen in der Schweiz in Höhe von einer Milliarde Franken (nach dem damaligen Wert), die Kommission geht indes von über zwei Milliarden aus.
Schweizer Souveränität gegen alliierte Forderungen
Rund zwei Drittel gelangte erst im Laufe des Krieges in die Schweiz. Die Schweizer Behörden unterschlugen aber diese Erkenntnis gegenüber den Alliierten. Sie sprachen nur von alten und folglich unbedenklichen (d.h. nicht durch Raub zustande gekommenen) Anlagen.

Nach dem Kriege wehrten sich die Schweizer unter Hinweis auf ihre Souveränität hartnäckig gegen Alliierte Forderungen auf diese deutschen Vermögenswerte. Viele Vermögen blieben daher unangetastet und gelangten später an ihre deutschen Eigentümer zurück.
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Auch kriegswichtige Wolfram-Lieferungen
Die Schweizerische Bodenkreditanstalt (SBKA) unterstützte im Zweiten Weltkrieg die deutsche Rüstungsindustrie. Um gesperrte Mark-Guthaben liquidieren zu können, organisierte sie nach 1941 die Lieferung des kriegswichtigen Wolframs von Spanien nach Deutschland. Die in Zürich ansässige Bodenkreditanstalt trug in den Jahren 1942, 1943 und 1944 je rund drei Prozent zum damaligen Jahresbedarf des Dritten Reichs an Wolfram bei, das zur Härtung von Stählen eingesetzt wurde, schrieb Barbara Bonhage in ihrer im Auftrag der Bergier-Kommission verfassten Studie zur SBKA.
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Finanzdienste auch für Mussolinis Italien
Bei Schweizer Politikern und Bankiers galt auch das faschistische Italien - selbst nach dem Abessinien-Überfall und dem Erlass von Rassengesetzen - als vertrauenswürdiger Partner. In der Bergier-Studie "Netzwerke, Projekte, Geschäfte" wird klar, dass Italien an der schweizerischen Kapitalkraft zur Stärkung der eigenen Wirtschaft interessiert. Zudem sah man in Rom die Schweiz als Rettungsanker für dringend benötigte Devisen.

Auf Schweizer Seite kam man den Bedürfnissen Italiens nach "harter Währung" weitgehend entgegen. 1940 gewährte ein Schweizer Bankenkonsortium unter Führung des Bankvereins Italien - ohne Gegenleistungen - einen Fremdwährungskredit von 125 Millionen Franken.

Dieser diente der getarnten Finanzierung von italienischen Devisentransaktionen und lief somit den Interessen der Alliierten zuwider. Erst ab 1941 wurde diese Politik auf Kritik von Großbritannien zum Teil geändert.
Flüchtlingsbericht: Schweiz trug zu Nazi-Zielen bei
Die Bergier-Kommission hat auch ihren Flüchtlingsbericht von 1999 mit neuen Angaben ergänzt. Sie bleibt aber auch in der überarbeiteten Version bei ihren Kernaussagen über die schweizerische Flüchtlingspolitik zur Nazizeit.

Mit Maßnahmen wie dem J-Stempel und der Grenzschliessung für jüdische Flüchtlinge 1942 hätten die Schweizer Behörden - ob beabsichtigt oder nicht - dazu beigetragen, dass die Nazis ihre Ziele erreichen konnten, heißt es auch im überarbeiteten Band "Die Schweiz und die Flüchtlinge".
Latenter Antisemitismus
Ein wichtiges Motiv für die Handlungsweise der Behörden sei ein latenter Antisemitismus gewesen - und nicht die Sorge um die Versorgungs- oder Bedrohungslage der Schweiz.

Die Bergier-Forscher ergänzten das Kapitel über die Grenzschließung 1942 mit einem neu entdeckten Protokoll einer Sitzung der Polizeidirektorenkonferenz. Dieses galt bisher als verschollen.

Den Forschern sei es jedoch gelungen, ein stenographiertes Protokoll der Sitzung zu finden. Es macht deutlich, dass die Beteiligten - unter ihnen Bundesrat von Steiger - den
verfolgten Juden den Grenzübertritt verweigerten, obwohl sie über ihre verzweifelte Lage Bescheid wussten.
Mehr über den Bergier-Bericht in science.orf.at:
->   Die Rolle der Schweiz im zweiten Weltkrieg
->   Schweiz: Gemischte Reaktionen auf Bergier-Bericht
 
 
 
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01.01.2010