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Sprachverarbeitung im Gehirn  
  Sprache ist eine der wenigen ausschließlich uns Menschen vorbehaltenen Fähigkeiten. Sie ist das Ergebnis eines komplizierten Zusammenspiels verschiedener Gehirnregionen, wie ein Hertha-Firnberg-Forschungsprojekt zeigt, in dem die neuronalen Grundlagen der Sprachverarbeitung anhand der Messung der elektrischen Gehirnaktivität untersucht werden.  
Untersuchung von Sprachprozessen
Dass Sprache im Gehirn verarbeitet wird, weiß man seit einigen hundert Jahren. Die unterschiedliche Beteiligung der beiden Hirnhemisphären an der Sprachverarbeitung sowie die Tatsache, dass bei der Sprachverarbeitung unterschiedliche Gehirnregionen verschieden bedeutsame Rollen spielen, ist seit etwa 150 Jahren bekannt.

Diese Befunde führten zu einer eher lokalistischen Ansicht über die neurobiologischen Grundlagen der Sprache. Während der letzten Jahrzehnte konnte jedoch gezeigt werden, dass - im Gegensatz zu einer strengen Lokalisation, also der Zuordnung zu einem angeblichen "Sprachzentrum" - die Sprachverarbeitungsprozesse auf die vernetzte Aktivität einer Vielzahl verschiedener Regionen der Gehirnrinde und auch tiefer liegender Gehirnstrukturen zurückgeführt werden können.
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Projekt "Neuronale Grundlagen der Sprache"
Unter der Leitung von Peter Rappelsberger untersucht die Arbeitsgruppe Integrative Neurophysiologie des Instituts für Hirnforschung an der Universität Wien die neuronalen Grundlagen verschiedener geistiger Fähigkeiten des Menschen wie etwa Gedächtnis, Sprache, Musik und Denken. In den achtziger Jahren entwickelte Rappelsberger mit dem Leiter der damaligen Forschungseinrichtung Helmuth Petsche spezielle Verfahren zur Analyse der elektrischen Gehirnaktivität (Elektroenzephalogramm, EEG) des Menschen. Mit diesen und ähnlichen Methoden untersucht Sabine Weiss seit mehr als zehn Jahren die neurophysiologischen Grundlagen sprachlicher Prozesse, unterstützt durch mehrere FWF-Projekte. In diesem Text für "science.orf.at" berichtet sie über ihr Hertha-Firnberg-Forschungsprojekt zum Thema "Funktionale kortikale Netzwerke während des Sprachverstehens".
->   Wissenschaftsfonds (FWF)
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Neuronenverbände als funktionelle Sprachzentren
Für eine effiziente und intakte Sprachverarbeitung müssen die Gehirnregionen miteinander kooperieren und je nach Anforderung kurzzeitige "funktionelle Sprachzentren" bilden.

Solche "funktionellen Sprachzentren" bestehen aus einer großen Anzahl von Neuronenverbänden, die in besonderer Weise miteinander zusammen arbeiten und "Kooperationsnetzwerke" bilden.
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Die Methode
Während die Versuchspersonen verschiedene sprachliche Aufgaben ausführen, wird das EEG mit Elektroden von der unversehrten Kopfhaut abgeleitet und anschließend mit spektralanalytischen Methoden ausgewertet. Diese Methoden ermöglichen es, Unterschiede in definierten Frequenzfenstern der elektrischen Aktivität zu erfassen, die die Zusammenarbeit von Gehirnregionen widerspiegeln und mit unterschiedlichen Teilleistungen der Sprachverarbeitung einhergehen.
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Substantive und Verben im Gehirn?
Eines der zentralen Themen in der Untersuchung von Sprache ist die Frage nach der Art und Weise, wie unser Gehirn mit sprachlichen Einheiten wie etwa Wörtern umgeht. In der Schule lernen wir, dass es verschiedene Wortarten wie etwa Substantive und Verben gibt.

Die Einteilung in verschiedene Wortarten hat eine jahrtausendealte Tradition und basiert auf introspektiven Erkenntnissen von Sprachphilosophen und -wissenschaftlern.

Ob diese bewährte und alltagstaugliche Einteilung in Wortarten eine neuronale Entsprechung hat, d.h. ob auch das Gehirn solche Kategoriensysteme verwendet oder ob es sich um eine künstliche Einteilung handelt, ist unklar.
Abstrakte und konkrete Substantive
In Vorarbeiten zu diesem Hertha-Firnberg-Projekt konnte jedoch gezeigt werden, dass die Einteilung in abstrakte (z.B. Glaube) und konkrete (z.B. Hase) Substantive wahrscheinlich nicht künstlich ist. Vielmehr zeigten sich auch anhand hirnphysiologischer Prozesse Unterschiede, die jeweils typisch für die eine oder die andere Untergruppe sind.

Während bei der Verarbeitung von konkreten Begriffen eine Vielzahl von Gehirnregionen miteinander interagieren (etwa visuelle und motorische Regionen), so sind an der Verarbeitung abstrakter Begriffe nur wenige sprachspezifische Gehirnregionen beteiligt.
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Untergruppen der Verben
Bei den Verben hingegen können Untergruppen aufgrund physiologischer Befunde postuliert werden, die nicht der Einteilung der traditionellen Grammatik entsprechen. In Zusammenarbeit mit Horst M. Müller (Universität Bielefeld) zeigte sich, dass eher eine Einteilung in bildhafte Verben (z.B. springen) und weniger bildhafte Verben (z.B. nennen) vorgenommen werden kann.
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Gemerkt oder nicht gemerkt - das ist hier die Frage
Eine wichtige Rolle für die Sprachverarbeitung spielen auch Gedächtnisprozesse, wobei gezeigt werden konnte, dass für sprachliche Gedächtnisprozesse nur Kooperationsnetzwerke in bestimmten EEG-Frequenzen wichtig sind.

Beim Merken von Wörtern, die von den Versuchspersonen anschließend erinnert werden, sind mehr Gehirnregionen miteinander vernetzt als beim Einprägen von Wörtern, die später nicht erinnert werden.
Weitflächigere Netze
Weitere Untersuchungen zeigten, dass Personen mit guter Gedächtnisleistung intensivere, weitflächigere Kooperationsnetzwerke im Gehirn aufweisen als Personen mit schwächerer Gedächtnisleistung.

Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass anhand von Ausmaß und Art der neuronalen Kooperationsnetzwerke die mittlere Gedächtnisleistung vorhergesagt werden kann.
Anwendungen und Perspektiven
Anwendungsmöglichkeiten dieser Arbeiten könnten in der Verbesserung der Behandlung von Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern, aber auch in der Erleichterung des Zweitspracherwerbs bei Erwachsenen liegen.

Auch könnten die Ergebnisse dazu beitragen, aphasische Syndrome besser zu verstehen und dadurch letztlich auch die Aphasietherapie zu verbessern.

Weiters unterstützen die gewonnenen Ergebnisse Vorhaben zur Programmierung sprachverstehender Computer im Rahmen einer Kooperation mit dem Sonderforschungsbereich 360 "Situierte künstliche Kommunikatoren" der Universität Bielefeld.
->   Institut für Hirnforschung
->   AG Experimentelle Neurolinguistik
->   SFB 360, Universität Bielefeld
Lesen Sie weitere FWF-Gastbeiträge über das Firnberg-Programm in science.orf.at:
->   Monika Seekirchner: Wittgensteins kommentierter Nachlass
->   Maja Pivec: Neues Lernen in Forschungsschulen
->   Sabine Agatha: Verborgene Lebewesen des Meerwassers
->   Ursula Prutsch: Kulturpolitik und Kulturtransfer in Brasilien
 
 
 
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01.01.2010