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Synästhesie - Vernetzung der Sinne  
  Als "Synästhesie" bezeichnen Wissenschafter es, wenn die Wahrnehmungen verschiedener Sinnesorgane gekoppelt werden. Für die Vorgänge im Gehirn, die etwa Geschmack und Form, Farbe und Ton als Einheit erscheinen lassen, gibt es unterschiedliche Theorien.  
Das Phänomen wird schon seit drei Jahrhunderten beschrieben, aber erst der amerikanische Neurologe Richard Cytowic hat es für die moderne Wissenschaft interessant gemacht.

Der Beginn seiner Forschungen war ein Abendessen bei Freunden - und die Begegnung mit Michael Watson, dem Mann, der Formen schmeckt.
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Richard Cytowic: Der Mann, der Formen schmeckt
"Ich war bei meinem neuen Nachbarn zum Abendessen eingeladen. Er hatte ein Huhn gebraten. Als wir uns zu Tisch setzten und zu essen beginnen wollten, sagte er "Oh, da sind nicht genug Spitzen auf dem Huhn." Sein Freund fragte ihn, wovon er redet, was er denn rauche. Aber ich wurde neugierig, und so hat er erzählt, dass Geschmack für ihn etwas ist, was er an den Händen fühlt, als ob er tatsächlich etwas angreifen würde. Er fühlt Gewicht, Material, Form und sogar Temperatur. "Sie haben Synästhesie", sagte ich ihm und er war glücklich zu hören, dass es einen Namen dafür gab. Er wurde dann zu meinem "Mann, der Formen schmeckt"."
->   Homepage Richard Cytowic
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Unwillkürliche Sinneskoppelung
Schätzungen zufolge ist einer von 2000 bis 25.000 Menschen Synästhetiker. Am häufigsten ist das Farbenhören. Ein bestimmter Buchstabe erscheint dabei zum Beispiel immer rot, Musik von Rachmaninow wird blau gehört.

Eine andere häufige Form ist das Formen schmecken, wie zum Beispiel bei Michael Watson, der sein Brathuhn nur dann als geschmacklich abgerundet empfindet, wenn er ausreichend Spitzen an den Fingern fühlte.
Vererbbar und nicht willentlich zu steuern
Allen gemein ist, dass die synästhetische Wahrnehmung weder kontrollierbar noch willentlich steuerbar ist, und einen meistens das ganze Leben lang unverändert begleitet.

Die Anlage zur Synästhesie ist vererbbar, betroffen sind deutlich häufiger Frauen als Männer. Über die verantwortlichen Gene weiß man allerdings noch nichts.
Vernetzung über das limbische System
Die Vorstellung, dass definierte Areale auf der Großhirnrinde für bestimmte Wahrnehmungen zuständig sind, lässt sich heute mithilfe bildgebender Verfahren bestätigen.

Beim Sehen leuchten da gewisse Regionen des Sehzentrums auf, beim Hören die des Hörzentrums.
Steuerung der synästhetischen Wahrnehmung
Mit solchen bildgebenden Verfahren hat Richard Cytowic die Hirntätigkeit bei den synästhetischen Empfindungen Michael Watsons, seines "Mannes, der Formen schmeckt", untersucht. Bei ihm zeigte sich, dass die Aktivität in der Großhirnrinde entgegen allen Erwartungen abnimmt.

Cytowic folgert daraus die Theorie, dass das limbische System die synästhetische Wahrnehmung steuert. Dieser tiefergelegene Teil des Gehirns ist großteils für Erinnerung und Emotionen zuständig, und - so vermutet Richard Cytowic - eben auch für die Sinneskoppelungen bei Synästhetikern.
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Limbisches System
Das limbische System ist eine Struktur am Rande des Neokortex und ermöglicht sinnvolles Reagieren und Interagieren mit der Umwelt und anderen Lebewesen. Stammesgeschichtlich früh entstanden, dient es dem Überleben des Individuums und der Art, indem es viszerale Funktionen, affektives Verhalten, einschließlich Brutpflege, Verteidigung, Kampf und Reproduktion als integriertes System organisiert.
->   Limbisches System
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Direkte Verbindung der Hirnareale
Eine ganz andere Theorie vertreten unter anderen Simon Barren Cohen und John Harrison von der Cambridge Universität. Sie vermuten, dass die Verbindung der Wahrnehmungen bei Synästhetikern durch eine direkte Verbindung der betroffenen Hirnareale zustande kommt.

Beim Farbenhören wären demnach direkte Nervenverbindungen zwischen dem Hörzentrum und dem entsprechenden Teil des Sehzentrums vorhanden.
Überbleibsel aus der Kindheit?
Diese direkten Verbindungen könnten ein Relikt aus der frühen Kindesentwicklung sein. Bei Katzen ist bekannt, dass sie als Neugeborene über solche Querverbindungen im Gehirn verfügen.

Baron-Cohen und Harrison halten es für möglich, dass auch bei Menschen in den ersten Lebensmonaten solche Verbindungen bestehen, dass wir also alle als Synästhetiker geboren werden.

Während sich diese Verbindungen bei den meisten spätestens ab dem sechsten Lebensmonat auflösen, würden sie bei Synästhetikern ein Leben lang bestehen bleiben, so die Theorie - die sich bisher ebenso wenig eindeutig beweisen lässt, wie die Cytowic's.
Synästhesie in der Kunst
Synästhesie hat vor allem in der Kunst des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts eine wichtige Rolle gespielt.

Vladimir Nabokov hat Buchstaben mit bestimmten Farben verbunden - und ist dabei bei seiner Mutter, von der er die Eigenschaft offensichtlich geerbt hat, auf große Verständnis gestoßen. Auch von Kandinsky, Baudelaire und Rimbaud heißt es, sie wären Synästhetiker gewesen.
"Lichtstimmen" - Töne und Farben
Der Komponist Alexander Skrjabin schließlich hat sogar versucht, seine vermeintliche Synästhesie dem Publikum zugänglich zu machen. Für sein Werk "Prometheus" komponierte er eine eigene "Lichtstimme".

Jeder Tonart ordnete er eine bestimmte Farbe zu, raumfüllende Lichtprojektionen zu seiner Musik sollten ein erster Schritt zur Schöpfung des alle Sinne umfassenden Kunstwerks sein, das ihm vorschwebte.

Ob die Impulse dazu tatsächlich aus einer angeborenen, unwillkürlichen Synästhesie kamen, wird heute bezweifelt - vermutlich war doch eher die Idee eines Gesamtkunstwerkes die treibende schöpferische Kraft.

Ein Beitrag von Birgit Dalheimer für die Ö1-Dimensionen, 5.3., 19 Uhr
->   Radio Österreich 1
->   Synaesthesia and the Synaesthetic Experience
->   Synaesthesia - A Unity of Senses
Mehr dazu in science.ORF.at:
->   "Farben hören, Formen schmecken"

 
 
 
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01.01.2010